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...kommt sowas mal vor! Deutschland düpiert Brasilien. Mit 1:7. In Brasilien. Ulrike Nimz schrieb diesen Text mit einer Hand, weil sie in eine Tüte atmen musste.

Finale! Randale! Lange wird man reden, von dem Tag, an dem die Deutschen erst ihre Keller und dann sich selbst volllaufen ließen. Mein Gott, was haben sie für ein Bohei gemacht beim ZDF, ums Wetter, um die "goldenen Sehnsüchte der Generation Sommermärchen". In den Einspielern vorab so viele aufgerissene Münder in Zeitlupe wie sonst nur in schlechten Kriegsfilmen. Und am Ende stellt sich raus, dass die kein bisschen übertrieben haben. Was für ein Spiel! Dagegen war das Wunder von Bern auf der emotionalen Skala ein Wadenkrampf.

Trotzdem: Wir atmen alle mal kurz in die Tüte und analysieren kühl, was da eigentlich passiert ist. Anpfiff. Beide Mannschaften wählen die Kreißsaal-Taktik: frühes Pressen. 11. Minute: Ecke Kroos, Müller hält den Fuß hin. Toooor! Júlio César guckt nur wie sein großer Namensvetter nach dem ersten Dolchstoß. Und nicht nur Bachelorstudenten der Geschichte wissen: Da kommen noch ein paar: Müller, Klose, Kroos, Kroos, Khedira. Halbe Stunde gespielt - 5:0!!! Hulk hat einen dicken Hals, in Chemnitz-Bernsdorf rennt jemand brüllend gegen einen Laternenmast. Auf der Tribüne in Belo Horizonte heult ein kleiner Junge hysterisch, dazu singen ein paar Krachlederne: "Oh, wie ist das schön". Lauter ist nur das Brechen von Neymars Herz.

Wer hätte das gedacht: Deutschland macht den Sack schneller zu als der Weihnachtsmann im Dorf der Verdammten. Und die Spannung hat sich gerade mit einem Blitzkrieg-Böller den Kopf weggesprengt. Aber erstmal ist Halbzeit. Man traut sich ja gar nicht aufs Klo. Ich wage die Prognose: Der ein oder andere aufrichtige Fan wird auch gar nicht mehr müssen.

Zuletzt konfrontierten die Deutschen die Seleção 1992 auf brasilianischem Boden und verloren. Bodo Illgner ließ sich damals nur drei Dinger reinhauen und galt schon als Loser. Kann auch an dem Buch gelegen haben, das er  zusammen mit seiner Frau rausgehauen hat: "Alles" hieß das, drin stand dann aber nichts, außer ein paar Lattenkrachern. Bodo und Bianca - das war tatsächlich ein bisschen wie Disneys Mäusepolizei: Eigentlich ganz süß, aber an manchen Stellen muss man den Kindern die Augen zuhalten, weil es zu gruselig wird.

Egal, zweite Hälfte. Man sollte meinen, dass die Brasilianer jetzt brennen wie Rolf Töpperwien bei Kippchen und einem Zahnputzbecher Stroh 80. Aber da ist nichts außer einem zaghaften Aufbäumen, hier und da ein Schüsschen. Aber Neuer ist ja da. Manuel. Der schöne Manuel. In der Assoziationskette irgendwo zwischen Siegfried, dem Drachentöter, und He-Man. Vielleicht sind dem kleinen Bub auch nur die Torwarthandschuhe in den Zaubertrank gefallen, damals  in Gelsenkirchen-Buer. Noch heute steht der Bottich im Gestrüpp hinter der Trinkhalle, drinnen schwimmen die Stutzen von Mesut Özil und die Schienbeinschoner der Gebrüder Altintop. Anders lässt sich nicht erklären, warum ein einziger Stadtteil eine solche Dichte an Nationalspielern hervorbringt, oder was?

85. Minute. Ramires versucht's nochmal, am Ende hat aber nur der Ball Glück und landet in Neuers Armen. Kennt eigentlich noch jemand Ansgar Brinkmann, den weißen Brasilianer? Der letzte Straßenfußballer Deutschlands - Spitzname "Trinkmann" - aus Bakum, diesem niedersächsischen Favela? Alle Züchtigungsversuche im Fußballinternat von Bayer Uerdingen konnten ihn nicht von Fahrerflucht, Körperverletzung, Sachbeschädigung und Millionenpleite abhalten. Stattdessen nannte er seinen Trainer gern "Bratwurst". Der würde das hier vielleicht noch drehen.

"Über irgendwas ärgert sich Joachim Löw", faselt Rethy und merkt nicht, dass das an so einem Tag, während so eines Spiels, kaum etwas anderes sein kann, als der Moderator. Ob Mama und Papa Rethy ihren Sohn nach dem Dracula-Darsteller Bela Lugosi benannt haben? Einen Puls scheint er jedenfalls nicht zu haben, als der eingewechselte Schürrle erst das 6:0, dann das 7:0 schießt. Der höchste Halbfinalsieg aller Zeiten. In den Reihenhäusern des Landes beginnen weinende Männer erst den Flachbild-Fernseher und dann sich selbst mit dem Handy zu filmen, um alles für den im Autocorso gezeugten Nachwuchs festzuhalten. Und morgen werden Ärzte die halbe Republik krankschreiben: Schleudertrauma durch Kopfschütteln, Hämatome durch zwanghaftes Kneifen, trockene Augen vom verständnislosen Starren: "Um Gottes Willen, bleiben Sie im Bett, Sie haben sich verjubelt."

Oscar schießt noch schnell ein Tor, das die gelben Ränge leider nur noch wütender macht. Kann ein Spiel einen Bürgerkrieg auslösen? Wechselt Fred jetzt zum VfL 05 Hohenstein-Ernstthal? Wo kann man neue Ausrufezeichen-Tasten kaufen?

 

Es taumelt ins Bett,

Ihre Bella Rethy

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