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München, 12. Oktober 2014. 20 Grad im Schatten, azurblauer Himmel, ein leises Lüftchen - ein Herbsttag wie aus dem Bilderbuch. Es könnte herrlich sein.

Im Olympiapark herrscht Ausnahmezustand. Überall wimmelt es von Läufern, Zuschauern, Organisatoren und Helfern. Der Startschuss für die Läufer aus Block A ist bereits gefallen, da stehe ich noch in der Warteschlange zu den Damentoiletten. Vor mir ein Dutzend durchtrainierter Frauen, die aussehen, als würden sie so etwas öfter machen. Obwohl mir einige solidarisch zulächeln, bin ich eingeschüchtert. Ich fühle mich wie ein Hochstapler. Ich bin gar kein Marathonläufer, ich tu nur so.

In Startblock C dann dichtes Gedränge. Wir schieben uns an einem Mann vorbei, der sich einen Luftballon umgebunden hat, auf dem eine Zielzeit von fünf Stunden steht. Neben uns zwei junge Männer, die unentwegt auf ihr Handy starren. Der eine fragt uns, ob die Idee, hier mitzumachen, auch aus einer Schnapslaune heraus geboren wurde. Gar nicht so dumm. Wenn man es nicht schafft, kann man es auf den Alkohol schieben. Den fehlenden.

Der Moderator zählt schon rückwärts. Noch zehn Sekunden. Ich bin aufgeregt. Noch fünf. Ich will nicht. Drei. Zwei. Eins. Los! Keiner rührt sich. Es dauert noch eine geschlagene Minute, bis sich der gesamte Läuferpulk in Bewegung gesetzt hat und auch wir die Startlinie überqueren. Die Zeit läuft. Die erste halbe Stunde vergeht wie im Flug. Unsere Laune ist noch blendend und die Zuschauer feuern uns an. Warum habe ich so etwas nicht schon viel früher gemacht? Bei Kilometer acht biegen wir ab in den Englischen Garten. Hier ist alles wunderbar grün und still und spätsommerlich idyllisch. Bis Kilometer zwölf läuft es so gut, dass wir sogar die 4:30 Stunden-Läufer einholen. Neben mir hechelt der Sensenmann: Von Kopf bis Fuß in eine schwarze Kutte gehüllt, den Rücken aufgepolstert, in der Hand eine knapp zwei Meter lange Sense. Ihm muss mörderisch heiß sein.

Am Verpflegungsstand bei Kilometer 14 halten wir an und gehen ein Stück. Die Helfer reichen uns Wasser, Iso-Getränke und Bananenviertel. Meine Beine fühlen sich allmählich schwer an, irgendwie vergeht mir gerade die Lust. Der 4:30 Stunden-Ballon schwebt an uns vorbei und langsam außer Sichtweite. In der nächsten Stunde geht es stetig bergab. Gerade als ich mich für diese wahnwitzige Idee verfluche, trommelt uns die Melodie von Safri Duo entgegen. Halbzeit!

Am Halbmarathon-Start ist die Hölle los. Aus den Lautsprecherboxen wummern fette Bässe, die Zuschauer pfeifen und klatschen und ein Moderator kommentiert die vorbeikommenden Läufer. Als ich meine Eltern am Rand entdecke und ihnen zuwinke, joggt er plötzlich neben mir. "Heyyy... (er schaut auf meinen Namen) Annemarie!! Die Hälfte ist geschafft, jetzt geht die Party richtig los!", brüllt er ins Mikrofon. Ich spüre, wie alle Augen auf mich gerichtet sind und denke an meinen glutroten Kopf. "Wie geht es dir an diesem wunderschönen Tag?" Natürlich hervorragend, wie sieht es denn aus. Sind schließlich nur noch 21 Kilometer bis ins Ziel.

Kilometer 23. Meine Beine brennen. Meine Füße fühlen sich platt an. Die Sonne glüht vom Himmel und ich wünsche mir Regen. Oder eine Liege. Während der nächsten fünf Kilometer bin ich wie in einem Tunnel. Ich trotte von einem Verpflegungsstand zum nächsten und lege für jeden Schluck Wasser Gehpausen ein. Umso anstrengender ist das Weiterlaufen. Noch 14 Kilometer. Ich schaff das nie. Mein Freund versucht mich abzulenken und zeigt hier und da auf irgendwelche Dinge am Straßenrand. Ich sehe nichts. Bei Kilometer 32 eine kleine Ablenkung durch meine Eltern. In einer Stunde erwarten sie uns im Ziel. Nur noch eine Stunde! Ich schöpfe neuen Mut. Jetzt aufzugeben wäre Blödsinn.

Ich laufe, gehe, trinke, gehe, laufe, gehe. Manchmal blicke ich auf die Leute am Streckenrand, manchmal auf die malerischen Bauten, meistens aber zu Boden. Mich überholen Läufer, die doppelt und dreifach so alt sind wie ich. Oder doppelt so schwer. Oder beides. Mir ist das egal. Ich will einfach nur ins Ziel kommen. Als uns die Fünf-Stunden-Läufer überholen, kommen mir trotzdem kurz die Tränen. Ich versuche sie zu unterdrücken und bekomme Schluckauf. Ich bin wütend. Auf mich und mein Schneckentempo.

An der Seite steht abseits der Zuschauermassen eine einzelne Frau. Sie trägt ein Plakat, auf dem "Micha ist der Beste" steht. Mitleidig schaut sie zu mir herüber: "Annemarie, auch wenn du den Rest jetzt gehst, du kommst ins Ziel! Du schaffst das!" Ich will ihr antworten, bekomme aber wegen meiner Schnappatmung nur unzusammenhängende Laute zustande. Im Stillen danke ich ihr von ganzem Herzen.Mein Atem beruhigt sich und ich setze mich langsam wieder in Bewegung. Kilometer 40. Die letzten zweitausend Meter ziehen sich brutal in die Länge. Dann endlich, als würden sich die Pforten des Himmels öffnen: der Eingang zum Olympiastadion.

Andreas Bourani singt ein Hoch auf uns und durch einen Tunnel aus Nebel und Licht schweben wir auf die 400 Meter-Bahn. Alle Schmerzen sind vergessen. Die Zuschauer in den Rängen klatschen und jubeln und tragen uns über unsere letzte Runde. Der Mann vor uns wirft Handküsse kreuz und quer in die Menge. Ich fühle mich wie ein Weltmeister und wünsche fast, die Runde wäre doppelt so lang. Kurz vor dem Ende teilt sich die Bahn in die Zieleinläufe für die Marathon- und die Halbmarathonläufer. Ein Helfer scheucht uns gerade auf die linke Bahn, als ein augenscheinlich übergewichtiger Läufer schwer atmend an uns vorbei zieht. Mein Freund gibt mir zu verstehen, dass wir uns das auf keinen Fall bieten lassen und animiert mich zum Sprint. Ich würde dem Mann seinen Triumph ja von mir aus gönnen, habe aber keine Chance. Mit letzter Kraft schalte ich in den Turbo und überhole den traurig dreinblickenden Läufer.

Vor uns das Ziel! Moment mal... 1:25 Stunden? Da stimmt doch was nicht. Wir sind ernsthaft auf der falschen Bahn - der Zieleinlauf für die Marathonläufer ist auf der rechten Seite. Vom Ziel trennt uns jetzt nicht mehr unsere eigene Willenskraft sondern eine rund 50 Zentimeter hohe Absperrung. Mit letzter Kraft werfen wir uns über die Barriere und landen mit einem Hechtsprung im Ziel. Ich sehe noch, wie der dicke Mann bei dem Versuch, es uns gleich zu tun, stolpert und beinahe strauchelt, da überreichen uns zwei Mädchen im Dirndl auch schon unsere Medaillen. "Ois Guade, hoste guat g'macht!" Wie herrlich Bayrisch klingen kann.

In der Chillout-Lounge auf dem Stadionrasen beladen wir uns mit allem, was es gibt und sinken zu Boden. Ich kaue an meiner Brezel und fühle mich großartig. Das war er also: mein erster Marathon. Fünf Stunden, vier Minuten und acht Sekunden voll Jubel, Qual und Selbsterkenntnis. 80.000 Zuschauer. 21.128 Teilnehmer aus 101 Nationen. 7760 Marathonläufer. 6222 kamen ins Ziel. Eine davon war ich.

 

Fünf Tage nach Tag X

Läufe: 1

Wochenkilometer: 42,195

Gemütslage: Überglücklich

Fazit Woche 30: Einen riesengroßen Dank an das wundervolle Publikum in München, an die Frau mit dem Plakat, an meine Eltern, meine Familie, meine Kollegen und natürlich an Oli - durch euch war der Marathon ein unvergessliches Erlebnis. Ihr habt mich ins Ziel getragen.

 

P.S.: An alle, denen ich zu langsam war: Haile Gebrselassie, Marathon-Weltrekordhalter von 2007 bis 2011, hat mal gesagt, "Wenn du einen Marathon läufst, dann läufst du gegen die Distanz - und nicht gegen die anderen Läufer oder gegen die Uhr."

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