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Zweite Instanz: das Bauchgefühl
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Ein Leser hat mir heute von diesem Vorfall berichtet: Bei einem Besuch in Dresden hat er kürzlich bei einem Spaziergang festgestellt, dass entlang der Gassen viele Menschen sitzen oder auch knien mit einem Schild in der Hand, auf dem "Ich habe Hunger" steht. Da er von sich selbst als "guten Menschen" ausgeht, hat er auf seiner Route dem ersten Mann fünf Euro gegeben und dafür ein Danke und ein freundliches Lächeln erhalten. Nun tat ihm aber die Frau leid, die etwa 50 Meter weiter auf dem Pflaster saß und gleichfalls darum bat, dass man ihr zu einer Mahlzeit verhelfe. Der Mann sagte zu sich selbst, dass er diesmal die Bitte wörtlich nehmen möchte, weshalb er in ein nahegelegenes Fast-Food-Restaurant gegangen ist und dort einen Hamburger gekauft hat. Diesen hat er der Frau mit dem Schild in der Hand angeboten. "Sie hat mich in einer Sprache, die ich nicht verstand, angeschrien und mir den Pappbecher aus der Hand geschlagen", teilte mir der Leser weiter mit. Das war aber nicht der Grund, der ihn veranlasst hatte, sich bei mir zu melden. Den hat er mir aber auch noch genannt:
"Die Frau ist aufgestanden und zu dem Mann gelaufen, dem ich den Geldschein gegeben hatte. Beide sind zu einem nahegelegenen Parkplatz gegangen und in eine Nobellimousine gestiegen."
Den Ärger, den der Leser wegen dieses Vorfalls verspürt, kann ich nachvollziehen, aber ein Urteil, ob sein Verhalten richtig war, möchte ich nicht fällen. Nun ist es immer so, dass ich mir große Mühe gebe, die Motivation zu ergründen, warum die Leute sich mit ihren Anliegen an die Zeitung wenden. Bei diesem Fall war es nicht anders zu erwarten gewesen: Ein Bericht darüber, dass es solche Zeitgenossen mit fragwürdigen Verhaltensmustern gibt, die auf die Hilfsbereitschaft der Menschen spekulieren und sie ausnutzen wollen. Dieses Fazit aber ziehe ich nur hier, denn ich weiß nicht, wem ich es sonst mitteilen sollte, weil ich es dem Mann nicht zumuten wollte: Der gesunde Menschenverstand ist die eine Sache, der man vertrauen sollte beim Treffen von Entscheidungen, bei denen es darum geht, wie man selbst auf andere Menschen wirkt; das Bauchgefühl aber ist manchmal die bessere Instanz, die man auf keinen Fall ignorieren sollte. Manchmal nämlich sendet es Signale aus, die einen warnen können. Ob der Leser ein solches Bauchgefühl verspürt hat, weiß ich nicht; ich habe ihn nicht danach gefragt, weil ich mich nicht getraut habe, diese eine Grenze zu überschreiten.
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