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Die Frage nach dem Warum

Mit einer Schweigeminute und der Enthüllung einer Gedenktafel haben Menschen in Heilbronn der ermordeten Polizistin Michèle Kiesewetter gedacht.

 

Heilbronn. Das Kondolenzbuch will nicht enden. "Ich hoffe sehr, dass die Killer gefasst werden und dafür büßen, was sie getan haben", schrieb eine Angelica 2008 zum ersten Jahrestag des Mordes auf der Heilbronner Theresienwiese. Weit über 200 Einträge zählt die von der Polizei zu Ehren der ermordeten Polizeimeisterin Michèle Kiesewetter
betreute Plattform im Internet: Das Wer, das Warum, diese Fragen klingen bei den meisten Einträgen an. Zum gestrigen fünften Jahrestag ist vieles anders, scheint zumindest ein Teil der Fragen beantwortet. Auf der Heilbronner Theresienwiese, wo gerade der örtliche Rummel aufgebaut wird, sind mehr als 200 Menschen zusammengekommen, als Baden-Württembergs Innenminister Reinhold Gall die Gedenktafel enthüllt, die mit der gemeinsamen Erklärung der Städte Hamburg, Dortmund, Rostock, Kassel, Nürnberg, München und Heilbronn an alle Tatorte, an alle Opfer des Terrortrios erinnert, das sich Nationalsozialistischer Untergrund nannte.

Zweifel an schnellen Antworten Bedächtig stellt der alte Herr im dunkelgrauen Anzug eine Schale Blumen neben die Stele. Gelbe Tulpen und rote Rosen hat Fritz W. für seine
Enkelin an den Tatort mitgebracht. Vor genau fünf Jahren starb seine Enkelin an dieser Stelle im Kugelhagel, ihr Kollege überlebte schwer verletzt. Als der Großvater die Blumenschale
abgesetzt hat und sich wieder aufrichtet, sucht seine Hand die seiner Frau, die neben ihm steht. Der Innenminister dankt den Großeltern, einem Cousin der Getöteten und deren Mutter für die Kraft, noch einmal herzukommen. Michèle Kiesewetters Mutter hat es erstmals geschafft, wie sie es auch erst vor Wochen erstmals schaffte, zum Grab im Heimatort Oberweißbach zu gehen.

Zu tief saß über Jahre die Schockstarre, wie der Großvater der "Freien Presse" bei einem vorangegangenen Treffen daheim im Thüringer Wald berichtete. Innenminister Gall mahnt im
Sinne der Hinterbliebenen und der Opfer alle zur Besonnenheit, erinnert an die Belastungen, die "öffentliche Spekulationen" für sie bedeuten. Auch davon berichtete Fritz W. der "Freien Presse" bereits. Schließlich verfolgte er die Ermittlungen zum Tod seiner Enkelin von Beginn an: die Zeit der Suche nach der Phantomfrau, deren genetischen Fingerabdruck
man vermeintlich am Tatort fand, bis sich herausstellte, dass für die Sicherung von Spuren schlicht verunreinigte Wattestäbchen benutzt worden waren. Fritz W. entsinnt sich der ausweichenden Erklärungen, mit denen das badenwürttembergische Landeskriminalamt damals auf die Panne reagierte.

Und er entsinnt sich, wie neue Hoffnung auf Aufklärung keimte, als man im November vorigen Jahres im ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach die Dienstwaffen seiner Enkelin und ihres Kollegen fand, neben den beiden offenbar in den Freitod geflohenen Terroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt. "Aber seitdem hatte man auf alles viel zu schnell Antworten", kritisiert der Großvater, der einst selbst Polizist war, wie er sagt. Michèle Kiesewetter stamme gewissermaßen aus einer Polizistenfamilie. Auch ihr Onkel, ihr großes Vorbild, sei Polizist gewesen.

Schnelle Antworten? Holterdipolter verkündete der Stuttgarter Generalstaatsanwalt im November aus der Ferne, der Fall sei geklärt, als man in der Zwickauer Wohnung des  Terrortrios eine russische Tokarev und eine polnische Radom-Pistole fand; baugleiche Modelle der Tatwaffen aus Heilbronn. Nicht nur Fritz W. wunderte sich über solch schnelle Kommentare. Angesichts der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht erfolgten ballistischen Untersuchung der Waffen äußerten damals auch die zuständigen Ermittler in Zwickau und Heilbronn Verwunderung über das Vorpreschen.

Inzwischen haben die Untersuchungen laut Bundesanwaltschaft zwar stattgefunden und bestätigt, dass es sich um die Tatwaffen handelt. Dennoch bleibt Fritz W. skeptisch,
ob damit alles geklärt ist. Dass man bei den Ermittlungen bisher nicht davon ausging, dass die Polizeidienstwaffen illegal erworben, sondern beim Mord geraubt wurden, erklärt sich damit, dass sich die Reizgasflasche und die Handschellen der getöteten Beamtin ebenfalls im Besitz der Terroristen befanden. Spuren in Kiesewetters Heimat Als erste Spuren in den Heimatort von Kiesewetter, nach Oberweißbach führten, sprach Bundeskriminalamtschef Jörg Ziercke von einer möglichen "Beziehungstat". Später ruderte er zurück. Er habe eher Bezugspunkte zum Ort als persönliche Beziehungen der Täter zu Kiesewetter gemeint. Fakt ist, der örtliche Gasthof "Zur Bergbahn" wurde damals von David F. betrieben. Er ist
der Bruder der Frau des ehemaligen Thüringer NPD-Landes-Vizes Ralf Wohlleben. Ralf Wohlleben, der inzwischen als mutmaßlicher Mordwaffenorganisator des Terrortrios inhaftiert ist, betreute die Internetpräsenz der damals braunen Gaststätte.

2006, im Jahr vor Kiesewetters Ermordung, fand dort eine Saalveranstaltung des "Nationalen und sozialen Aktionsbündnisses Westthüringen" statt. Veranstalter war der heutige Organisationsleiter der Bundes-NPD, Patrick Wieschke aus Eisenach, selbst verurteilter Helfer eines Sprengstoffanschlags im Jahre 2000 auf einen Döner-Imbiss. Der Gasthof "Zur Bergbahn" ist nicht die einzige Spur des Neonazi- Netzwerks in den Heimatort der Polizistin.

Mit dem Aktionsbündnis eng verwoben waren zeitweise auch die Frauen des Thüringer Mädelrings. Mareike B., genannt "Rieke", galt über Jahre als Kopf dieser Neonazi-Frauengruppe. Sie wuchs in Mellenbach-Glasbach auf, einem fünf Kilometer von Oberweißbach gelegenen Ort, in dem Michèle Kiesewetter ihre beste Freundin hatte. Mareike B. reagiert auf die Frage, ob sie Michèle Kiesewetter persönlich kannte, ausweichend: "Dazu äußere ich mich nicht", sagte die mit ihrer blauen Punkerlocke auf den ersten Blick nicht dem rechtsextremen Spektrum zuzuordnende Frau auf Anfrage an ihrer Wohnungstür. Michèle Kiesewetters Großvater winkt ab, eine Mareike oder Rieke habe nie zum Kreis seiner Enkelin gehört. Warum Mareike B. dann ausweichend antwortet, kann er sich nicht erklären.

Auf der Kondolenzseite im Netz gibt es ein junges Mädchen, das Michèle Kiesewetter nicht persönlich kannte: "Ich habe mich mittlerweile sehr intensiv mit Dir und Deinem Schicksal auseinandergesetzt", schreibt die junge Besucherin. "Ich möchte ... nach meinem Abitur auch gerne Polizistin werden."

 

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