Dem Herbst 89 verdanke ich ein seither nicht zum Stillstand gekommenes Grübeln, was noch eine vertretbare Gesellschaftsperspektive sein könnte. Der Herbst 89, das war nicht einfach nur jener Prozess, der zur Erweiterung der Bundesrepublik durch neue Bundesländer führte. Die wiedervereinigung war bloß der spezifisch deutsche Beitrag zu einer viel umfassenderen Bewegung, die 70 jahre nach der Oktoberrevolution ein ganzes Gesellschaftssystem zum Einsturz gebracht hat. Ganz konkret jedoch verdanke ich dem Herbst 89 einen Anruf aus Leipzig, der zu einer gründlichen Veränderung meines Lebens führen sollte. Von Wien kommend hatte ich das Glück, nicht so eindeutig als Proponent der neuen Invasionstruppen wahrgenommen zu werden wie meine westdeutschen Kollegen. Es ist keine frage, dass bei der Neuverteilung der Möglichkeiten in diesem Land die ansässigen Menschen die benachteiligten waren. Für mich hat es freilich von Anfang an etwas Aufregendes gehabt, einer historischen Umbruchsituation beizuwohnen, zusehen zu können, wie eine ganze Innenstadt neu gestaltet wird. Auch wenn zwischendurch der politische Mut und die ökonomische Kapazität eingebrochen sind, sodass das gesamtgebilde nicht einem genialen Wurf gleicht, sondern einem Sammelsurium, in dem sich alte und neue irrtümer inmitten von alter und neuer Protzigkeit eingenistet haben. Der Wunsch, die DDR zum Verschwinden zu bringen, ist zu einer Zwangsneurose geworden. An den Veränderungen im Stadtbild ist das ablesbar. Was bislang fehlt, ist die Gelassenheit. Als ich in den Achtziger Jahren vom DDR-Schriftstellerverband das erste Mal durch den Arbeiter- und Bauernstaat kutschiert wurde, war mir schleierhaft, warum die mir zugeteilten Begleiter in der Stadt Leipzig so ins Schwärmen gerieten. Während auf der Gesprächsebene historische Namen wie Liebknecht, Goethe, Leibniz, Bach und Mendelssohn wie Glanzstücke herumgereicht wurden, waren in der augenscheinlichen Wirklichkeit nur zerbröckelnde alte Häuser und Plattenbauten zu sehen. Für meinen zugegebenermaßen oberflächlichen Blick von außen, der das spannungsreiche Geistesleben der Stadt nicht kannte, ragte einzig Kurt Masurs neues Gewandhaus in seiner eigenwilligen Form aus dem tristen Anblick heraus. Ernst Schwarz, der Mann, dem ich meine damalige Lesereise zu verdanken hatte, war, so stellte sich später heraus, um meine Zukunft besorgt. Er stand im Dienste von Markus Wolf. Naiv wie ich damals war, naturgemäß ohne mich für naiv zu halten, muss ich mich fragen, welcher Art meine Beziehungen zu diesem Land heute wären, hätte es die Wende nicht gegeben.Ein in der DDR nicht unbedeutender Dichter sagte neulich zu mir: Weißt du, Kollege, das mit der Stasi ist so eine Sache. Wenn über einen Bericht erstattet wurde, war man sicher blöd dran. Aber noch blöder dran war man, wenn kein Bericht erstattet wurde.Vielleicht kann man das als Beteiligter so sehen, und der Kollege ist aus dem Schneider, denn er hat das Glück, dass über ihn eine Stasi-Akte existiert. Ich wollte ihm schon nahelegen, sich bei denen, die diese Akte angelegt haben, zu bedanken. Was die menschen des Herbstes 89 erreicht haben, ist ein Gewinn an politischer Freiheit. Ein Gewinn an Sicherheit ist es nicht. So wie man die politische Freiheit zu schätzen lernt, wenn man sie nicht hat, so mag es auch mit der sozialen Sicherheit sein. Das hat der Wende den Glanz genommen. Das Gewonnene ist verblasst, das Verlorene schwelt als offene Wunde. Aber wer sagt denn, dass das, was im Herbst 89 begonnen wurde, schon zu Ende gebracht ist? Die Menschen am gesellschaftlichen Reichtum zu beteiligen und ihnen Schutz zu bieten, ohne sie politisch zu gängeln, das wäre doch noch eine Perspektive, ein würdiger Abschluss für jenen Aufbruch, der im Herbst 89 mit fast spielerischer Leichtigkeit den linken Totalitarismus kippte.Zur Person:Der Schriftsteller Josef Haslinger wurde am 5. Juli 1955 im niederösterreichischen Zwettl geboren. Nachdem er in Wien Germanistik, Theaterwissenschaften und Philosophie studiert hatte, gab er Ende der 70er Jahre die Literatur-Zeitschrift "Wespennest" heraus, bei er einen analytisch-gesellschaftskritischen Stil entwickelte. International bekannt wurde Haslinger mit seinem 1995 erschienenen Roman "Opernball", der von einem fiktiven Terroranschlag einer Neonazi-Gruppe auf die Wiener Oberschicht handelt.Bisher erschienene Beiträge Wendegeschichte 11 von Jana HenselWendegeschichte 8 von Annett GröschnerWendegeschichte 7 von Hans-Joachim MaazWendegeschichte 6 von Freya KlierWendegeschichte 4 von Joachim WaltherWendegeschichte 3 von Christiane NeudeckerWendegeschichte 2 von Clemens MeyerWendegeschichte 1 von Kerstin HenselDer Auftakt-Beitrag zur Serie