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Frei nach Descartes: Ich höre, also bin ich

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Gestern ging es mit diesem Gefühl los, heute hat es sich noch etwas verstärkt, auf den Punkt gebracht ist es nämlich so: Der Leser-Obmann der "Freien Presse" steckt in einer leichten Identitätskrise. Ganz bewusst habe ich für diese Diagnose die dritte Person gewählt, weil bevor hier der Verdacht aufkommt, will ich gleichzeitig bekennen - mir persönlich geht es gut, ganz wunderbar, wenn es jetzt noch bald Frühling werden könnte ... Was also ist passiert, heute zwischen 10 und 12 Uhr:

Punkt 1: "Ist da der Ombudsmann?" Ich wiederholte meine Begrüßung, stellte mich noch einmal vollständig mit Namen und Funktion vor. "Sag ich doch, Herr Ombudsmann, Sie kriegen jetzt meinen Ärger ab." Zwei Sätze wurde ich noch los, um dem Anrufer den Unterschied zu erklären, dann hörte ich zuerst ein "ist doch egal" und dann fünf Minuten lang eine Rede darüber, was für eine tolle Künstlerin doch Andrea Berg ist und wie wenig Ahnung der Kollege hat, der eine Kritik über das Konzert in Chemnitz geschrieben hat.

Punkt 2: "Gib das mal dem Leser-Obmann, er soll sich darum kümmern", hörte ich den Kollegen vorhin im Treppenhaus sagen, bevor ich um die Ecke bog. Im Stillen fragte ich mich gerade, ober der Redakteur auch gesagt hätte "gib das mal dem Ressort-Leiter Politik/Wirtschaft" oder ob er den Namen genannt hätte, als mir eine andere Kollegin entgegen kam und mich begrüßte: "Na, Herr Leser-Obmann, alles gut?" Eine halbe Minute später saß ich wieder an meinem Schreibtisch, zwei neue Mails waren eingegangen: "Lieber Leser-Obmann" und "An den Ombudsmann der Freien Presse" lauteten die Anreden.

Punkt 3: "Was sind Sie denn bloß für eine Zeitung, haben Sie überhaupt keinen Respekt mehr?" Weil ich Selbstbewusstsein demonstrieren wollte, habe ich dem Anrufer erst einmal erklärt, dass ich als Person nicht die Zeitung bin, ihn aber gerne anhöre und nach Möglichkeit auch weiterhelfe. Das war ihm egal: "Wie kann man die Bundeskanzlerin nur mit einem Hund vergleichen, am liebsten würde ich Sie gleich jetzt (...)." Dass ich den Artikel nicht geschrieben habe, aber gerne den Kollegen über diese Meinung informiere, hörte der Leser vermutlich gar nicht mehr, denn das Schimpfwort, das ich nicht wiederholen möchte, kam fast zeitgleich mit dem Geräusch eines auf die Gabel knallenden Telefonhörers.

Punkt 4: "Sie sollten nicht so viele Fremdwörter benutzten", sagte mir die Anruferin, eine sympathische Stimme, keine Spur von Ärger oder Groll. "Ich versuche nach Möglichkeit, Fremdwörter generell zu vermeiden", erwiderte ich. "Das stimmt nicht, Sie wollen sich wohl nur herausreden, ich könnte Ihnen hunderte Beispiele nennen, wo Sie vermutlich das schöne deutsche Wort, was an der Stelle auch gepasst hätte, gar nicht erst in Erwägung gezogen haben." Ich kramte in meinem Gedächtnis, wann ich in den vergangenen Tagen in meiner Kolumne oder im Blog mal ein Fremdwort benutzt hatte, als die Leserin weiter sprach: "Anscheinend geht es Ihnen wohl darum, ihr intellektuelles Niveau zu unterstreichen, diesen Verdacht habe ich jedenfalls." Jetzt wollte ich es genau wissen, fragte nach einem Beispiel: "Das haben Sie geschrieben, ich zitiere: Durch das Zusammenspiel von Genen, Hirnentwicklung oder traumatisierenden Erlebnissen in der Kindheit sei ihr Handeln determiniert." Schlagartig wurde mir klar, um was es der Leserin ging. Ich gelobte Besserung und versicherte ihr, dass ich die Chefredaktion darüber informieren werde. Später schaute ich im Archiv nach: Ich hatte die Ankündigung einer Radiosendung über die kontroverse Debatte um Schuld, Verantwortung und Willensfreiheit nicht einmal gelesen, geschweige denn geschrieben.

Wenn es diese Frage nicht schon geben würde, mir wäre sie vielleicht heute in den Sinn gekommen: Wer bin ich - und wenn ja wie viele?

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