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Das Leben an sich muss nicht kompliziert sein

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Drei Anläufe habe ich in meinem Leben gebraucht, um den Roman "Der Zauberberg" von Thomas Mann von vorne bis hinten durchzulesen. Die beiden ersten Versuche (Jugend und später in Sturm und Drang) waren zum Scheitern verurteilt, weil ich das Buch immer wieder zur Seite gelegt und gedacht habe: Im Grunde genommen passiert in dieser Geschichte auf mehr als tausend Seiten nicht wirklich etwas; von Spannung und fesselnden Entwicklungen kann nicht die Rede sein. Beim dritten Mal, als ich den Roman von ganz unten aus dem Stapel noch nicht gelesener Bücher nach ganz oben verfrachtete und einen dritten Anlauf startete, war ich in einem Alter, in dem man (aus welchen Gründen auch immer) anfängt, über das Leben an sich und das Sein im Besonderen nachzudenken. Und siehe da: "Der Zauberberg" war plötzlich von fundamentaler Kraft und hat mich regelrecht begeistert.

Daran habe ich gerade denken müssen, weil heute die Gespräche mit Lesern am Telefon nicht wirklich aufregend waren und weil ich eigentlich auch über nichts geredete habe, was es wegen des Informations- und oder Unterhaltungswertes wert wäre, hier in meinem Blog aufgeschrieben zu werden. Deshalb stelle ich mir jetzt einfach mal vor, ich verfasse die Geschichte meines Lebens als Leser-Obmann und ein typischer Tag war der 14. Juni 2011. Frohgelaunt und guter Dinge betrat ich mein Büro:

"Ich bin verzweifelt, ich weiß nicht weiter, ich habe schon alles versucht, vielleicht können Sie mir helfen", sagte mir die erste Anruferin und gab mir sogleich das Gefühl: Ich werde gebraucht; der Tag fängt gut an. Das Problem der Anruferin war kein außergewöhnliches, es begegnet mir häufiger und ich habe auch schon eine gewisse Übung darin, es zu lösen. Das war es: "Ich suche einen bestimmten Artikel, irgendwann in den vergangen Wochen habe ich ihn in der Freien Presse gelesen, doch mittlerweile ist die Zeitung schon im Altpapier. Doch jetzt brauche ich diesen Text unbedingt." Die Anruferin erzählte mir, um was es in dem Artikel ging, und ich versuchte prägnante Begriffe oder Personen herauszuhören, die ich dann in die Suchmaske des Archivs eingeben konnte. Der erste Versuch brachte mir mehr als 50 Treffer. Das waren aber viel zu viele, um die Texte einzeln durchzugehen, also fragte ich nach: "Können Sie sich noch an weitere Details erinnern?" Die Anruferin konnte, nach drei weiteren Abfragen im Archiv gab es nur noch drei Treffer, der gewünschte Artikel war darunter. "Ich schicke Ihnen die Seite als pdf-Datei zu", sagte ich der Leserin und erhielt als Antwort: "Sie machen mich glücklich." Ach ja ...

... doch auch schöne Zeiten gehen irgendwann mal vorbei: "Sie haben da einen Fehler in der Zeitung, ich verlange eine Richtigstellung", sagte mir der nächste Anrufer, offensichtlich wirklich maßlos verärgert. Seine Kritik war berechtigt, der Fehler ist tatsächlich einer: Der Ort Schierke im Harz liegt wirklich in Sachsen-Anhalt und nicht in Niedersachsen, wie es in dem Artikel "Neuer Märchenpfad führt auf den Brocken" heute auf der Seite "Kind & Kegel" zu lesen ist. Schnell fand ich die Bestätigung im Internet und sagte: "Aber Schierke liegt schon ziemlich nahe an der Grenze." Doch der vorsichtige Versuch einer Entschuldigung wurde im Keim erstickt, weil der Leser noch hinzufügte, bevor er auflegte: "Das weiß doch jedes Kind, wie kann man nur so einen Unsinn schreiben." Ich gestehe: Insgesamt neun Mal haben Leser sich deswegen heute an die Redaktion gewandt. Und die Heftigkeit der Reaktionen hat mich ziemlich überrascht und sprachlos gemacht, bis ein sehr verständnisvoller Leser mir sagte: "Sie haben Recht, die Grenze ist nicht weit, aber es ist ja nicht irgendeine Grenze ..." Da fiel dann auch bei mir der Groschen ...

... und ich war wirklich froh, dass diese Erkenntnis mir die Gelassenheit zurück gab, um auch dem nächsten Anrufer zu sagen: "Kein Problem, ich kümmere mich darum, dass auch die Sperrung der S 272 in Schwarzenberg in die Übersicht über die aktuellen Baustellen auf Autobahnen und wichtigen Straßen in der Chemnitzer Region (Anmerkung: jeden Samstag auf der Seite Ratgeber) mit aufgenommen wird." Der Anrufer hat mir dann auch noch eine weiteräumige Umleitung erklärt, ich habe mich dafür bedankt und war mir sicher, sollte ich jemals nach Johanngeorgenstadt fahren, werde ich mich ganz gewiss an dieses Gespräch erinnern.

Dieses aber werde ich so schnell auch nicht vergessen, weil es mich bewegt hat, weniger inhaltlich, sondern mehr, weil der Mann am Telefon sich seiner Gefühle nicht geschämt hat. "Ich rufe sonst nur an, weil ich mich beschweren möchte, heute aber kann ich nicht anders und muss ein dickes Lob loswerden." Noch bevor der Anrufer - er gehört zu den wenigen, die ich, ohne dass sie sich vorgestellt haben, an der Stimme erkenne - weiter sprach, war mir klar, das jetzt etwas Besonderes kommen musste; denn dieser Leser ruft mich immer nur dann an, wenn er etwas in der Zeitung gelesen hat, das Rückschlüsse darauf zulässt, dass die Gesellschaft den Bach runter geht, weil es an Moral und Anstand unter den Menschen mangelt. "Ich möchte gerne weitere Berichte wie diesen Artikel mit der Überschrift 'Klares Normen- und Wertesystem nötig' auf der Seite Ratgeber lesen", sagte mir der Mann am Telefon. Den Text innerhalb der Serie "Erziehung heute" am Samstag hatte ich sogar gelesen, deswegen konnte ich aufrichtig sagen: "Das Lob und den Hinweis gebe ich gerne weiter." Gedacht aber habe ich auch: Über diesen Erziehungsratgeber ließe sich vortrefflich streiten; mit diesem "schon älteren" Leser habe ich darauf verzichtet, und es ist mir nicht einmal schwer gefallen.

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