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Im Zweifel drehen

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Ich bin in einer privilegierten Position: Ich kenne einen Mann, der mit mir Salsa tanzen lernen möchte. Wir wollten aber erst einmal reinschnuppern, uns nicht gleich für einen monatelangen Kurs verpflichten. Von Freitag bis Sonntag hat in Chemnitz das fünfte Salsa Festival "La Palma" getobt. Samstagabend gab es eine Gala mit Einführungskurs. Wie gemacht für uns, haben wir gedacht. Die Party stieg im Kraftwerk e.V. auf der Kaßbergstraße. Ein zweistöckiger Bau, oben ein riesiger Saal, viel DDR-Charme.

Als wir ankommen, sind wir schon einmal nicht die Ersten. Man sitzt am Rand der riesigen, leeren Tanzfläche, mit Blick zur Bühne. Die Stimmung erinnert mich an die Minuten, bevor früher die Teenie-Disko in Schwung kam. Aus der DJ-Ecke dröhnt laute Salsa-Musik. Die Anlage ist zwar groß, der Sound aber gruselig. Als Tanzlehrer Lorenzo das Mikrofon in die Hand nimmt, versteht man kaum, was er sagt, obwohl gar keine Musik mehr läuft. Lorenzo steht in der Mitte der Tanzfläche und fordert die, die am Kurs teilnehmen wollen auf, zu ihm zu kommen. Natürlich möchte keiner allein mit ihm dort stehen, also bleiben alle sitzen. Meine Begleitung hält sich am Bier fest und möchte bitte bitte nicht aufstehen. Lorenzo geht auf eine Gruppe junger Frauen zu, von denen er weiß, dass sie nicht tanzen können und bewegt sie alle auf die Tanzfläche. Schließlich trauen sich mehr Leute aufzustehen, auch wir. Lorenzo geht auf die Bühne und macht den Grundschritt vor, wir machen es ihm nach. Juhu, wir tanzen schon ein bisschen. Zufrieden lache ich meine Begleitung an, die auch Spaß an den Schritten hat. Aber dann wird es komplizierter. Lorenzo kehrt uns die meiste Zeit den Rücken zu und macht schnell weitere Schrittmuster vor. Ob seine Schüler mitkommen oder nicht, scheint ihm egal zu sein. Jetzt kommt noch eine Drehung dazu, erst links und dann zweimal nach rechts - wir sind raus. Lorenzo erklärt den Kurs für erfolgreich beendet und verschwindet. Wie man den Schrittsalat nun als Paar zu einem Tanz zusammensetzten kann, erfahren wir nicht. Mein mitgebrachter Salsa-Schüler ist bedient. "Das war's für heute". "Na komm, wir schauen erst mal zu", versuche ich zu beschwichtigen, als wir uns wieder hinsetzten.

Sofort ist die Tanzfläche voll. Nicht wie früher bei der Teenie-Disko, wo keiner anfangen wollte. Anfänger ist hier keiner. Die Paare wirbeln umher, strahlen und scheinen enorm Spaß zu haben. Es gibt sehr viele schöne Frauen in schönen Kleidern zu sehen. Eine Frau im Blümchenkleid fällt mir besonders auf. Sie hat eine klasse Ausstrahlung, tanzt, wie ich das aus Filmen kenne und hat völlig zerschlissene Schuhe an den Füßen, mit teilweise abgerissenen Riemchen. Sehr sympathisch. Es gibt natürlich genauso viele Männer, die eine hervorragende Figur auf der Tanzfläche machen. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie lachen die ganze Zeit. Bemerkenswert finde ich auch die Mischung der Leute: Von sehr jung bis ziemlich alt ist alles dabei. "Das ist ein bisschen, wie in einen Ameisenhaufen starren", stellt meine Begleitung fest, weil so viele Paare umher wirbeln. Wir gucken neidisch zu und würden das auch gern können. Die Entscheidung, jetzt doch einen richtigen Salsakurs zu machen, ist längst gefallen.

Bei all dieser Professionalität trauen wir uns mit dem gerade gelernten Grundschritt nicht auf das Parkett. Wir stünden nur im Weg, wären ein Hindernis für die anderen und würden zudem beobachtet, fürchten wir. Da hilft auch kein zweites Bier. "Das wird heut nix mehr, ich fühl mich unwohl", sagt die Begleitung. Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Schließlich habe ich ihn überredet, 15 Euro für den Abend auszugeben.

Doch jetzt gibt es erst einmal etwas Neues anzuschauen: Den ersten Show-Block. Der schafft es aber nicht, die Stimmung meines Freundes aufzulockern. Die Tanzdarbietungen haben bis auf wenige Ausnahmen die Professionalität einer Animateurshow in einem Club-Hotel auf Mallorca - schon allein, weil der Sound so grottig ist. Der Animateur, äh der Moderator, der in jedem Satz zweimal "Ladies and Gents" sagt, macht die Sache auch nicht besser. Meine Begleitung streicht die Segel. Er geht, ich bleibe allein zurück.

Der zweite Showblock ist viel besser. Die Gruppen sind professionell und erhalten eine Menge Beifall. Danach überlege ich mögliche Überschriften für meinen Blog. "Letzte Nacht in Chemnitz... war ich fehl am Platz" erscheint mir die beste. Eigentlich sollte ich auch nachhause gehen. Da kommt plötzlich ein Mann auf mich zu und fragt, ob ich tanzen möchte. Ich lächle schüchtern und sage, dass ich zwar möchte, aber nicht kann. Er sagt "Aha", nimmt meine Hand und zieht mich auf die Mitte der Tanzfläche. Und tatsächlich: Wir tanzen! Ich mache einfach, was er macht und lasse mich durch die Gegend wirbeln. "Im Zweifel drehen", habe ich beim Zuschauen gelernt. Manchmal kommen meine Füße durcheinander und ich tippel irgendwie umher, bis ich wieder in den Schritt finde. Es fühlt sich großartig an und macht einen Heidenspaß. Besonders, weil Hagen, der Tänzer, sich gar nicht zu langweilen scheint. Zumindest lässt er es sich nicht anmerken und hält vier Lieder mit mir durch. Am liebsten würde ich noch stundenlang weiter machen, beschließe aber trotzdem, zu gehen. Denn das soll man bekanntlich tun, wenn's am schönsten ist.

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