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Der Mensch wächst, wenn er gefordert wird

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Meine Aufgabe besteht zu mehr als neunzig Prozent darin, mit Lesern am Telefon über Nachrichten und Themen zu sprechen, die in der Zeitung gestanden haben, weil die Anrufer dazu Fragen haben, ihre Meinung äußern wollen oder ein Ventil für ihren Ärger brauchen. Das Gegenteil aber kommt auch vor: Leser rufen mich an, weil sie mit mir über etwas sprechen wollen, was nicht in der "Freien Presse" zu lesen war oder was grundsätzlich nicht Gegenstand von Artikeln ist, weil es "totgeschwiegen" werden soll, meinen die Anrufer. Von zwei Gesprächen, die ich heute geführt habe, möchte ich berichten; nach beiden habe ich zu der Tüte mit Schokokugeln in der Schreibtischschublade greifen müssen.

Episode 1: "Unwetter finden in Ihrer Zeitung nur statt, wenn sie hier in der Region passieren oder es irgendwo in der Welt zahlreiche Todesopfer gibt", sagte eine Leserin und konfrontierte mich mit dieser Feststellung, die das Resultat eines ihr vorliegenden Vergleichs in den vergangenen Monaten sei, weil sie von mir eine Begründung dafür verlangte. Meiner Aufforderung, mir diesen Umstand anhand von einigen Beispielen zu erläutern, kam sie gerne nach, und etwa fünf Minuten später wusste ich, dass "Freie Presse" über die jüngsten Unwetter in Italien, Portugal und England entweder gar nicht oder höchstens ganz kurz berichtet hatte. Dass ich das gerne im Archiv überprüft hätte, wollte die Frau nicht akzeptieren, denn sie sagte: "Sie können mir glauben." Allerdings wollte sie mir nicht abnehmen, dass es bei den Redakteuren keine Parameter wie Niederschlagsmenge, Windgeschwindigkeiten, Zahl der Verletzen und Toten oder Höhe des Sachschadens gibt, die herangezogen werden, um die Entscheidung über die Nachricht eines Unwetters zu treffen. Dann habe ich, obwohl ich mir der Konsequenzen dessen bewusst war, doch das Schlüsselwort genannt: "Es kommt immer auf die Nachrichtenlage an." Böses Wort, ich weiß, denn jedes Mal komme ich aus der Zwickmühle kaum heraus, den Anrufern eine für sie nachvollziehbare Erklärung zu liefern, warum in der Zeitung steht, dass ein Hollywood-Schauspieler sich scheiden lässt, der Mittelstürmer des Bundesligisten verletzt ist, die Umsatzzahlen eines Dax-Unternehmens gesunken sind oder die Bundeskanzlerin zu einem Staatsbesuch abgereist ist, während die tausenden Obdachlosen nach einem Wirbelsturm mit keiner Zeile erwähnt werden. Da war er wieder, einer von diesen Momenten, in denen ich denke: Der Mensch wächst an seinen Herausforderungen. Zehn Minuten später führte ich dieses Gespräch:

Episode 2: "Es gibt keinen Gott", sagte ein Anrufer und wollte mir damit die Begründung für eine Forderung an die "Freie Presse" liefern: "Ständig lese ich christliche Artikel in der Zeitung. Jetzt verlange ich von Ihnen, dass sie endlich mal einen atheistischen Bericht in die Zeitung setzen." Das war neu für mich, dieses Thema hatte es bislang bei meinen Gesprächen am Telefon noch nicht gegeben. Auf eine auch nur ungefähre Wiedergabe der Diskussion muss ich leider verzichten, weil ich dazu nicht in der Lage bin, keine Chance; und das habe ich an dieser Stelle eigentlich auch noch nie zugegeben. Aber nach zehn Minuten hatte ich zumindest eine vage Ahnung davon, was der Anrufer mit einem atheistischen Bericht meinte, während ich weitere zwanzig Minuten später bei dem Mann immer noch nicht auf Verständnis gestoßen war  für meine Argumentation, dass es nicht einfach so einen investigativen Artikel über die wissenschaftliche beziehungsweise philosophische Beweisführung für die Nichtexistenz von Gott geben kann. Die Debatte mit diesem Leser aber ist noch nicht zu Ende, denn jetzt wird er mir zuschicken, was er in den vergangenen Wochen an Artikeln mit einer eindeutigen christlichen Tendenz in der Zeitung gefunden hat. Und dann reden wir weiter.

Morgen ist Freitag, und das ist gut so.

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