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Um Anstand und Moral geht es doch gar nicht
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Zu den beinahe regelmäßigen Grundsatzdiskussionen, die ich mit Lesern am Telefon führe, gehört auch diese, deren Ansatz ich mit einer Frage verdeutlichen möchte: Leistet eine Zeitung der sich immer weiter ausbreitenden Niveaulosigkeit innerhalb der Angebote an öffentlicher Unterhaltung einen Vorschub, wenn sie solche Veranstaltungen besucht und darüber berichtet? Meine Antwort darauf: Nein, denn gerade das Offenlegen von fehlender Qualität trägt maßgeblich dazu bei, den potenziellen Zuschauern unter den Lesern die Möglichkeit zu geben, sich vor dem Besuch einer solchen Show kundig zu machen und die Entscheidung zu treffen, sich den Kauf einer Eintrittskarte lieber zu sparen. Der Leser heute war gegenteiliger Ansicht: "Niemals hätte ich das von meiner Zeitung erwartet, dass sie sich auf dieses Niveau begibt und diesen Schmutz auch noch verbreitet." Angerufen hatte er mich, weil es für ihn eine Frage der Ehre sei, seine Meinung zu dem Bericht "Cindy, der Friedensengel" über den Auftritt von Ilka Bessin in Zwickau mitzuteilen. Zunächst habe ich den Mann gebeten, mir ein paar Beispiele zu nennen für das, was er als "Schmutz" in dem Artikel bezeichnet. Diese Zeilen aus dem Artikel hat er zitiert:
"Ihr werdet noch an mich denken." Ganz bestimmt. Frauen beim nächsten Frauenarztbesuch, Männer beim Blick in den Spiegel. Die einen werden an Cindy auf dem "Pflaumenbaum" denken, die anderen an den Plaste-Peter und Ständer.
"Meine beste Freundin Pritney wollte heiraten", erzählt Cindy. "Eigentlich ja in unsa Lieblingskneipe. Aber da hattse seit kurzem Hausverbot. Die hatte sich da nackich auf'n Tresen jelegt, den janzen Körper mit Mett bestrichen und jerufen: Fuck the Hack, fuck the Hack!" Als das Publikum sich wieder beruhigt, sagt sie: "In Fachkreisen wird se seitdem auch ,die Fickadelle' jenannt."
Mein Argument: "Hunderte Menschen waren in der Stadthalle dabei und haben offensichtlich vor Begeisterung getobt. Wer solchen Klamauk nicht mag, geht eben einfach nicht hin. Wer nichts darüber in der Zeitung erfahren möchte, muss den Artikel nicht lesen, sondern kann ihn einfach ignorieren und weiterblättern."
Der Leser meinte dazu: "Ignorieren ist ein gutes Stichwort, denn wenn die Zeitung in solch großem Umfang darüber berichtet, macht sie diesen Unsinn gesellschaftsfähig und bietet ihm außerdem noch ein Podium für noch mehr Öffentlichkeit, was einer Reklame dafür gleichkommt. Man sollte so etwas mit Ignoranz strafen."
Ich fragte zurück: "Aber wie soll man es dann als das, für das Sie es halten und für verwerflich erachten, entlarven und andere davor warnen?"
Der Mann in der Leitung erwiderte: "Das muss man gar nicht, so etwas disqualifiziert sich von selbst. Wer es einmal erlebt hat, erzählt anderen davon und geht selbst nie wieder hin."
Das sah ich anders: "Ich befürchte, dass ich Ihnen da widersprechen muss, denn die Erfolgskurve dieser Frau geht, soviel ich weiß, von unten nach oben und nicht andersrum, was bedeutet, dass man, wenn man diesen Trend stoppen will, ihm etwas entgegensetzen muss, und das kann eine Zeitung, in dem sie kritisch berichtet, durchaus leisten."
Der Anrufer wagte, obwohl er sich, wie er eingangs betont hatte, einen eher kühnen Vorstoß, was seine Wortwahl betraf: "Aber muss ich deshalb gleich etwas übers Onanieren lesen? Muss man solchen Schmutz wiederholen? Man kann doch auch mit gewählteren Worten eine Kritik verfassen, wenn es denn schon sein muss."
An dieser Stelle breche ich den Bericht über diesen kontroversen Dialog ab, weil wir uns auch in den folgenden zehn Minuten nicht wirklich angenähert haben, denn ich habe konsequent das Zitieren der Zoten dieser Kunstfigur verteidigt, während der Leser darauf beharrte, Schmutz bleibe auch dann dreckig, wenn man zu ihm auf Distanz geht. Das abschließende Wort möchte ich gern dem Anrufer überlassen, er sagte: "Ich habe gelesen, dass diese Frau nach Amerika will, um dort am Broadway ihrer Karriere einen weiteren Schub zu verleihen." An dieser Stelle machte er eine kurze Pause, bevor er hinzufügte: "Ich gehe mal davon aus, dass die Menschen dort tatsächlich so prüde und konsequent in der Ahndung von Verstößen gegen Sitte und Moral sind, denn dann wird sie irgendwann im Gefängnis landen, und ich wäre der Letzte, der dann Mitleid mit ihr hätte."
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