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Zu den beliebtesten Mittel von Lesern, die ihre Meinung zu einer politischen Entscheidung öffentlich kundtun möchten, gehört es, den vermeintlich verantwortlichen Politikern einen Brief zu schreiben; von Mensch zu Mensch spricht es sich viel leichter, werden sie sich vermutlich denken, und legen dann los: Liebe Frau Bundeskanzlerin, lautete kürzlich die Anrede, während die Leserin sich anschließend bitter darüber beklagte, dass die Renten im Osten noch immer nicht denen im Westen angeglichen seien. Ein anderer Leser meinte: Lieber Ministerpräsident, setzten sie sich doch bitte für folgende Dinge ein, begann er seinen Brief und zählte dann eine Reihe von politischen Angelegenheiten auf, die Stanislav Tillich seiner Ansicht nach in die Wege leiten sollte, wozu unter anderem zählte, dass die Strompreise nicht weiter steigen mögen. Woher ich das alles weiß? Ganz einfach: Die Leser schicken mir diese Briefe; zum einen, weil sie mich höflich bitten, das Schreiben weiterzuleiten, und zum anderen, weil sie ihre Zeilen als offenen Brief verstanden wissen wollen und hoffen, dass die Zeitung daraus einen Artikel macht. Nun habe ich mir gedacht, was den Lesern recht ist, dürfte mir selbst nur billig sein. Weshalb ich mich entschieden habe, dem Bundespräsidenten einen Brief zu schreiben und ihn hier in meinem Blog zu veröffentlichen in der Hoffnung, dass es in dem Stab von Joachim Gauck einen Mitarbeiter gibt, der mit Hilfe der Suchmaschine jeden Tag das Netz durchforstet nach Nachrichten oder Artikeln über seinen Dienstherrn. Vielleicht erreichen meine Zeilen das Staatsoberhaupt, ich fasse mich auch betont kurz:

Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Joachim Gauck,

seit langem schon ist es mir ein großes Bedürfnis, Ihnen zu schreiben und mich ganz herzlich dafür zu bedanken, dass Sie immer wieder und mehr oder weniger regelmäßig mit einer klaren und unmissverständlichen Haltung zu politischen Fragen - sowohl auf nationalem Parkett, als auch in internationalen Dimensionen - dafür sorgen, dass es mir nicht an Arbeit mangelt und die Seite Leserforum in der "Freien Presse" (immer mittwochs, letzte Seite nach "Internet & Computer" und Blauer Börse) mit ebenso engagierten wie inhaltlich fundierten Meinungen gefüllt werden kann, sodass ich mir um meine Zukunft als Leserobmann der größten Zeitung in Sachsen keine Sorgen machen muss.

Sicher werden Sie jetzt darüber nachdenken, warum ich Ihnen gerade heute diesen Brief schreibe und Ihnen gegenüber meine Dankbarkeit zum Ausdruck bringe. Ich will es Ihnen gern erklären: Ihre Entscheidung, nicht zu den Olympischen Winterspielen in Sotschi zu fliegen, hat nicht nur, wie Sie der nationalen und internationalen Presse von heute sicher schon entnommen haben, weil viele Kommentatoren dieses Thema aufgreifen, eine kontroverse Diskussion ausgelöst, sondern hat auch dafür gesorgt, dass ich heute während meiner Sprechstunde zwischen zehn und zwölf mit den Lesern kaum über ein anderes Thema gesprochen habe und dass die Leser, die mich deswegen angerufen haben, gerade wegen ihrer prorussischen Grundeinstellung aus ihren Herzen keine Mördergrube machen wollten und entsprechend emotional argumentiert haben. Deswegen bin ich Ihnen nicht böse, das ist nun mal mein Job. Auch dass ich den Entwurf für die Gestaltung der nächsten Seite Leserforum komplett entsorgen konnte und mir einen neuen ausdenken musste, weil bereits am Tag danach zahlreiche Leserbriefe wegen Ihrer Entscheidung, die Olympischen Winterspiele zu boykottieren, bei mir eingegangen sind, hat mich zwar nicht gerade freudig gestimmt, aber ich will nicht klagen, denn das Gebot der Aktualität ist nun mal das oberste für uns Zeitungsleute.

Sie verstehen mein Anliegen, da will ich ganz ehrlich sein, und es ist mir wichtig, dies nochmals zu betonen: Ohne Ihre politische Statements und ihre Reaktionen auf Ereignisse in der Weltgeschichte wäre meine Arbeit bei weitem nicht so interessant und abwechslungsreich. Dafür noch einmal vielen herzlichen Dank, und wenn Sie sich künftig einmal über einen Artikel in der "Freien Presse" ärgern, so zögern Sie bitte nicht, mich anzurufen; wir können über alles reden.

Gestatten Sie mir bitte noch eine abschließende Bemerkung: Geht es nach dem Willen einiger Leser der "Freien Presse", die mich immer dann deswegen anrufen, wenn mal wieder ein entsprechendes Foto in der Zeitung zu sehen war, so wird es Zeit, dass Sie endlich ihre Lebenspartnerin heiraten; das setzt, ich weiß das, natürlich voraus, dass Sie sich erst mal von Ihrer Frau scheiden lassen. Also geben Sie sich, bei allem Respekt erlaube ich mir diese Bemerkung, doch endlich einen Ruck, viele unserer Leser werden es Ihnen ganz bestimmt danken.

Ich wünsche Ihnen eine schöne Weihnachtszeit und eine ebenso erfolgreiche wie von politischer Geradlinigkeit bestimmte weitere Amtszeit, und wenn Sie mal jemanden zum Quatschen brauchen, scheuen Sie sich nicht und beauftragen Sie Ihre Sekretärin, meine Nummer zu wählen. Zwischen zehn und zwölf habe ich immer ein offenes Ohr für Sie.

Mit freundlichen Grüßen
Reinhard Oldeweme
Leserobmann der "Freien Presse"

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