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Verschweigen möchte es nicht, weshalb ich zugebe: Meine Hoffnung und meine Erwartungen waren groß, dass mich heute nach der Kolumne "Mit einer Kehrseite" auf der Seite Leserforum möglichst viele Leser anrufen und mir von ihrer Bestürzung darüber berichten, dass sich in der vergangenen Woche nach den Berichten über das Coming-Out des Fußballspieler Thomas Hitzlsperger mehrere Männer mit einer ausgeprägten Homophobie bei mir gemeldet haben, um mir mit menschenverachtenden Formulierungen sowie extrem zynischen und von Borniertheit ausgefüllten Kommentaren ihre Meinungen über Homosexualität mitzuteilen. Und deshalb darf ich meine Freude jetzt einmal unverblümt zum Ausdruck bringen: Die weit mehr als 20 Leser, mit denen ich heute über dieses Thema gesprochen habe, haben mich auf eine mich begeisternde Art und Weise darin bestärkt, dass es immer gut ist, wenn man den Finger in die Wunde legt und öffentlich zum Thema macht, dass es eine Kehrseite gibt und das man niemals versuchen sollte, diese totzuschweigen oder als belanglos zu den Akten zu legen. Bis auf ein Leser, der die Berichte und vor allem die Fernsehsendungen über das Coming-Out als völlig am Thema vorbei kritisierte, weil sie das wahre Bild verzerren würden, denn seiner Ansicht nach lehnen die meisten Menschen in Deutschland die Homosexualität ab, haben alle anderen Anrufer ihre Bestürzung wegen des Inhalts der Kolumne und ihre Sorge darüber zum Ausdruck gebracht, dass es solche von Hass erfüllte Zeitgenossen immer noch gibt.

Bei aller positiver Bewertung dieser Gespräche hat mich ein Aspekt doch auch nachdenklich gestimmt, denn weit mehr als die Hälfte der Anrufer waren dieser Meinung: Wenn Homosexualität in unserer heutigen Gesellschaft etwas ganz Normales und die Gleichstellung der schwulen und lesbischen Menschen bis ins Steuerrecht und damit schon weit fortgeschritten ist, und wenn man diesen Streit im konservativ geprägten Baden-Württemberg, ob sexuelle Vielfalt sich als Thema im Unterricht eignet und nicht lieber gestrichen werden sollte, als Ausnahme in der deutschen Bildungslandschaft ansieht, drängt sich diese Frage geradezu auf: Warum hat das Coming-Out des Fußballspielers Thomas Hitzlsperger eine so enorme öffentliche Aufmerksamkeit ausgelöst und warum ist dieses Thema von den Medien angesichts der ausführlichen Berichterstattung über mehrere Tage so ausführlich behandelt worden? Dieses Phänomen habe, meinte eine Leserin am Telefon, die unter einer ausgeprägten Homophobie leidenden Zeitgenossen erst auf den Plan gerufen, sich wieder mal an prägnanten Stellen zu Wort zu melden und beispielsweise auch mich anzurufen, um ihren "geistigen Müll" abzuladen. Nachvollziehen konnte ich diese Kritik, und das habe ich den Lesern in der Leitung auch gesagt, aber verteidigt habe ich die im Vergleich zu anderen Zeitungen und vor allem zu den Sendungen und Talkshows im Fernsehen eher zurückhaltende und auf Sachlichkeit bedachte Berichterstattung in der "Freien Presse" trotzdem. Meine Argumente: Bislang haben sich ganz wenige Fußballer von Vereinen, die mit einer Mannschaft in den Bundesligen vertreten sind, geoutet, und Thomas Hitzlsperger war der erste Nationalspieler, der sich öffentlich zu seiner Homosexualität bekannt hat; das allein ist eine echte Nachricht, verbunden mit der Frage, warum das der Fall ist. Aber dass Fußball eine Sportart ist, in der es vor allem um vermeintlich männliche Ideale geht, halte ich, weil ich das gleichfalls in Berichten und Kommentaren gelesen und gehört habe, für kein besonders durchschlagendes Argument für eine so ausführliche mediale Aufarbeitung dieses Coming-Outs, denn hier greift man meiner Ansicht nach zu schnell zu einem Klischee, das mittlerweile reichlich abgenutzt ist und in die Mottenkiste sozialer Vergänglichkeiten verbannt werden sollte.

Erwähnen möcht ich noch dies: Viele Leser haben mir gesagt, sie würden sich Sorgen wegen meines Wohlbefindens und sogar um meine geistige Gesundheit machen und ob ich diesen Job als "Müllschlucker" oder "Kummerkasten" nicht langsam satt habe und mich nach einem anderen bei der "Freien Presse" umschauen wolle. Geantwortet habe ich: Zum einen ist es mir gelungen, auch wenn es lange gedauert hat, bis ich das geschafft habe, mit dem Verlassen meines Büros zum Feierband nahezu den ganzen Ballast und vor allem den Unmut wegen einiger Reaktionen von Lesern nicht mit nach Hause zu nehmen und entspannt meine Freizeit mit meinen Hobbys auszufüllen; zum anderen bin ich wirklich froh, dass es mir erlaubt ist, was ich jetzt auch wieder erleben durfte, öffentlich den Finger in die Wunde zu legen dort, wo die meisten Menschen gar nicht mehr daran geglaubt haben, dass es dort noch wehtun könnte, und der heutige Tag hat mir gezeigt, dass das vielleicht kein besonders großer Schritt auf dem Weg zu Veränderungen ist; aber es ist einer, den ich gehen kann und auch weiterhin gehen werde.

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