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Achtung: Politik geht jeden etwas an
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Dies ist eine Warnung, eigentlich aber eher ein gut gemeinter Hinweis: In diesem Blogeintrag geht es heute um eine politische Grundsatzfrage, die jeden Menschen in Deutschland etwas angeht beziehungsweise angehen sollte, und wer über ein derart schwieriges Thema nun nicht nachdenken oder sich selbst keine komplizierten Fragen stellen möchte, weil ihm der Sinn eher nach lockerer Unterhaltung steht, kann an dieser Stelle jetzt aussteigen; wir lesen uns dann morgen wieder.
Also gut: Ein 86 Jahre alter Leser hat mich heute angerufen, weil er mir eigentlich nur eine Frage stellen wollte. Allerdings brauchte er fast eine Viertelstunde, um sie vorzubereiten, weil er davon ausging, was sich als richtig erwiesen hat, dass ich die Bedeutung dieser Frage nur dann richtig einordnen kann, wenn ich mir einen gewissen Kontext vor Augen halte. Aber keine Angst: Ich gebe diese Einleitung hier jetzt nicht wieder, weil ich es angesichts ihrer Komplexität auch nicht mal ansatzweise schaffen würde, doch möchte ich drei Punkte daraus kurz zusammenfassen. Erstens: Der Mann hat während seines Lebens drei politische Systeme erlebt und überlebt, wie sie gegensätzlicher kaum sein können, während er niemals aufgehört hat, sich mit den Auswirkungen dieser Regierungsformen auf das Leben der Menschen vor allem im Alltag auseinanderzusetzen. Zweitens: Mit der aktuellen Debatte über eine mögliche gesetzliche Regelung für die aktive Sterbehilfe und mit den Reaktionen auf die Rede des Bundespräsidenten bei der Münchner Sicherheitskonferenz, bei der Joachim Gauck ein verstärktes Engagement der Deutschen in der Außenpolitik und eventuell sogar unter Einsatz militärischer Mittel gefordert hatte, waren es gleich zwei Themen, weswegen er dann zum Hörer gegriffen und mich angerufen hat, weil seiner Meinung nach bei beiden die Meinung einer breiten Mehrheit unter den Menschen in Deutschland nicht gehört wird und keinen Einfluss auf politische Entscheidungen hat. Drittens: Er hat keine Ahnung, warum das so ist.
Nun die Frage des 86-Jährigen: "Können Sie mir erklären, warum es den Paragrafen 146 im Grundgesetz immer noch gibt beziehungsweise warum die darin enthaltene Forderung immer noch nicht in die Tat umgesetzt worden ist?" Das konnte ich natürlich nicht, zumal mir der Inhalt dieses Paragrafen erst dann wieder in Gedächtnis zurückkam, nachdem der Anrufer ihn mir vorgelesen hat. Er lautet: "Dieses Grundgesetz, das nach Vollendung der Einheit und Freiheit Deutschlands für das gesamte deutsche Volk gilt, verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist."
Das bedeutet: Deutschland ist ein Land ohne eine vom Volk legitimierte Verfassung, in der unter anderem die Prämissen für oder gegen eine aktive Sterbehilfe und die Bedingungen für oder gegen einen Militäreinsatz verankert werden könnten; bislang gilt das Grundgesetz, über dessen Veränderungen oder Ergänzungen die Parlamente entscheiden. Im Auftrag der drei westlichen Besatzungsmächte war 1949 das Grundgesetz vom Parlamentarischen Rat und den Landtagen angenommen worden; eine Volksabstimmung gab es nicht. Das Grundgesetz war nicht als dauerhafte Verfassung gedacht und auch absichtlich nicht so bezeichnet worden, weil man warten wollte, bis die Wiedervereinigung erreicht ist und die Sowjetische Besatzungszone wieder zum vereinten Deutschland gehört. Als dies dann 1990 der Fall war, wurde das Grundgesetz einfach auf die ehemalige DDR übertragen; die Menschen in den neuen Bundesländern wurden auch nicht gefragt, ob sie mit dieser "Quasi-Verfassung" einverstanden sind.
Weil aber die Politiker im Bundestag und im Bundesrat ihre Entscheidungen zu neuen oder veränderten Gesetzen auf der Basis des Grundgesetzes treffen, die sie dann manchmal vor dem "Verfassungsgericht" verteidigen müssen, und weil die Rechten und Pflichten des Bundespräsidenten ihr Fundament ebenfalls im Grundgesetz haben, gilt für die beiden Parlamente und für das Staatsoberhaupt, dass man von einer Legitimation durch das ganze Volk eigentlich nicht sprechen kann. Deshalb wollte der Mann auch von mir wissen: "Warum ist es eigentlich überhaupt kein Thema, endlich für Deutschland eine Verfassung zu erarbeiten und die Menschen darüber abstimmen zu lassen?" Und er fügte eine weitere Frage hinzu: "Und warum nehmen wir die immer wieder kehrende Diskussion über Auslandseinsätze der Bundeswehr und über die Verabschiedung eines Gesetzes zur Regelung der Sterbehilfe nicht endlich zum Anlass, über eine längst überfällige Verfassung für Deutschland zu reden?"
Dies habe ich auf alle Fragen geantwortet: "Ich weiß es nicht." Aber am Ende des Gesprächs habe ich mich mit diesen Worten bedankt: "Aber ich habe jetzt reichlich Stoff zum Nachdenken."
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