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Die Eule, der Adler und weiße Tauben

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Eine Frau in der Leitung wollte heute von mir wissen, ob die Sperbereule noch da ist. Zunächst habe ich, weil ich das immer mache, wenn mir nur der leiseste Verdacht kommt, ich könnte hier bewusst aufs Glatteis geführt werden, um etwas Geduld gebeten ("mein Chef steht gerade neben mir"),  während ich die im Display angezeigte Telefonnummer in die Suchmaske eingegeben habe. Dann habe ich tief durchgeatmet; keine Kollegin aus einem der Nachbarbüros, keine Radiomoderatorin eines Spaßsenders, die Anruferin meinte es ernst, niemand wollte sich lustig machen. Also fragte ich nach: "Tur mir leid, nach welchem Vogel haben Sie gefragt?" Das wiederrum fand die Frau in der Leitung gar nicht komisch, denn dies war ihre Antwort: "Junger Mann, hören Sie mal gut zu, Sie haben doch vor etwa zwei Monaten groß darüber berichtet, können Sie sich nicht mehr daran erinnern?"

Einschub: Vor einigen Wochen habe ich einem Leser, der sich gleichfalls nach dem Funktionieren meines Gedächtnisses erkundigt hatte, die ersten zehn Stellen nach dem Komma der Kreiszahl Pi genannt und ihm mitgeteilt, dass ich ungefähr 100 Songs (einschließlich aller Strophen) im Kopf habe und ihm gerne eine Kostprobe vorsingen würde, aber leider nicht mit der Information dienen könne, wann zum letzten Mal ein Artikel über das Ozonloch in der Zeitung gestanden hatte. Soll heißen: Ich stehe zu meinem selektiven Erinnerungsvermögen und bekenne mich am Telefon stets dazu. Weiter geht's:

Die Leserin wiederholte also ihr Anliegen: "Es geht mir um die Sperbereule, die in der Nähe von Stollberg gesehen worden war und dafür gesorgt hat, dass eine Heerschar von Fotografen zu dem Acker gepilgert ist." An dieser Stelle, als ich die Information über die Kollegen mit der Kamera erhielt, dämmerte es mir auch wieder, während ich den Namen des Vogels in die Maske der Archivsuche eingab und nach wenigen Sekunden den Artikel "Die Eule ist der Star" auf dem Bildschirm hatte. Im Vorspann hatte der Kollege damals geschrieben: "Sie stammt aus dem hohen Norden und wanderte zur Polarnacht wohl etwas zu weit. Eine Sperbereule ist derzeit in Sachsen zu Gast und zieht andere weit gereiste Besucher an." Die Anruferin wollte also wissen, ob der seltene Vogel noch da ist oder wieder in seine eigentlichen Gefilde zurückgeflogen war. Alles klar, dachte ich, und sagte: "Ich kümmere mich darum." Dann schwieg ich, weil ich der Frau in der Leitung die Möglichkeit geben wollte, noch etwas zu sagen, vielleicht ein weiteres Problem loszuwerden. Aber sie sagte gleichfalls nichts, weshalb ich nach etwa fünf Sekunden fragte: "Kann ich noch etwas für Sie tun?" Dies war ihre Antwort: "Ich warte." Meine Verwirrung formulierte ich mit einer weiteren Frage: "Worauf?" Die Antwort der Leserin hat mich dazu veranlasst, die Nummer auf dem Display ein zweites Mal zu überprüfen: "Dass Sie mir sagen, ob die Sperbereule noch da ist."

Kein Scherz, dies war die Frage der nächste Anruferin (etwa drei Minuten später, unterdrückte Nummer): "Kann ich mit Ihnen über den Seeadler sprechen?" Diesmal jedoch, obwohl mir wieder Zweifel kamen und ich bereits nach einer Möglichkeit suchte, mich des Ernstes des Anliegens zu vergewissern, befreite mich die Frau in der Leitung selbst von jeglichem Misstrauen: "Ganz unten auf der Titelseite steht heute ein Bericht, in dem zu lesen ist, dass der Seeadler sich auf Rügen sein altes Revier zurückerobert hat." Die Zeitung lag neben meinem Bildschirm, die richtige Seite war aufgeschlagen, weshalb ich fragen konnte: "Was kann ich in dieser Sache für Sie tun?" Die Leserin meinte, ich könnte der Autorin des Artikels den Hinweis geben, dass sie leider nicht vollständig nach allen Informationen recherchiert habe. "Denn erst am vergangenen Wochenende habe ich auch auf Usedom einen Seeadler gesehen", teilte mir die Anruferin mit. Ich habe mich für den Hinweis bedankt und ihr versprochen, die Redaktion darüber zu informieren. Dann habe ich mich freundlich verabschiedet, den Hörer aufgelegt, noch einmal tief ein- und ausgeatmet und ganz leise (nur so für mich)  den Refrain eines alten Schlagers gesungen: "Die weißen Tauben sind müde, sie fliegen lange schon nicht mehr."

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