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"Aber es kostet viel Kraft"
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Mit Ausnahme einer Pause von anderthalb Jahren unmittelbar nach der Wende hat die Frau seit ihrer Lehrzeit fast 46 Jahre lang in Lohn und Brot gestanden. Nachdem sie zweimal den Arbeitgeber gewechselt hatte, weil ihr der neue jeweils bessere Perspektiven zu bieten schien, war sie seit 1996 in ein und derselben Firma beschäftigt. Zuletzt hat sie dort 1100 Euro brutto verdient; während dieser gesamten Zeit hat es (vor elf Jahren) nur eine einzige Erhöhung ihres Lohns gegeben. Im Sommer vergangenen Jahres ist sie in Rente gegangen. Weil sie aber noch Kontakt zu früheren Kolleginnen hat, weiß sie, dass ihr ehemaliger Arbeitgeber zum Jahreswechsel als Folge der Einführung des Mindestlohns die Hälfte der Beschäftigten entlassen hat. Nur weil sie damals in den frühen neunziger Jahren den Worten eines guten Freundes geglaubt und eine private Rentenversicherung abgeschlossen hatte, kommt sie heute über die Runden, ohne noch zusätzliche Hartz IV-Leistungen in Anspruch nehmen zu müssen. Das Geld, das die allein lebende Frau zur Verfügung hat, reicht gerade aus, um ohne größeren Probleme das Leben zu meistern; für die Erfüllung kleinerer oder auch größerer Träume reicht die Summe nicht aus. Das hat sie akzeptiert, sie will sich nicht beklagen.
Seit Ende vergangenen Jahres ist ihr Sohn arbeitslos, nachdem er zuvor neun Jahre lang in einem mittelständischen Betrieb beschäftigt und mit einem Nettoverdienst von unter 800 Euro nach Hause gegangen war. Sein Chef habe eigenen Angaben zufolge keine andere Möglichkeit gehabt, als ihn zu kündigen, weil er den gesetzlichen Mindestlohn nicht zahlen konnte; oder wollte, wie die Frau nach einer kurze Pause hinzufügt. Seit Herbst vergangenen Jahres hat ihr Sohn bei mehr als 50 Firmen nach einer Beschäftigungsmöglichkeit gefragt beziehungsweise sich auf ausgeschriebene Stellen beworben. Mit dem Geld, das ihm zurzeit zur Verfügung steht, kommt er nur aus, weil er sein eigenes Zimmer gekündigt und in der Wohnung der Mutter einen provisorischen Unterschlupf gefunden hat. Ein Verlassen der strukturschwachen Region kommt für den jungen Mann nicht in Frage, weil er hier seine Wurzeln hat und seine sozialen Kontakte nicht verlieren möchte. Seine Mutter weiß, dass er diese Entscheidung eigentlich überdenken müsste, aber sie akzeptiert sie, weil sie davon überzeugt ist, dass sie grundsätzlich eine richtige ist und man einem Menschen nicht verübeln kann, dass er dort leben möchte, wo er sich sicher, geborgen und zu Hause fühlt. Mutter und Sohn gehören nicht zu den Menschen, die sich wegen ihres Schicksals beklagen, vielmehr bemühen sie sich, das Beste aus dem zu machen, was ihnen das Leben gerade zu bieten hat.
"Ich wollte, dass Sie einmal mit einer Person sprechen, die sich nicht geärgert hat, als sie diese Nachricht in der Zeitung gelesen hat", erzählte mir die Lesern und fügte hinzu: "Gerade weil wir uns nicht vorstellen können, was es bedeutet, wenn man monatlich so viel Geld und dann noch jährlich einen solch hohen Zuschlag bekommt." An dieser Stelle dachte ich, sie wäre damit am Ende von dem angekommen, was sie mir sagen wollte, weil sie nicht mehr weitersprach. Als ich mich schon bedanken und verabschieden wollte, hörte ich ihre Stimme dies sagen: "Aber bitte bedenken Sie, bevor Sie den Stab über die brechen, die sich deswegen bei Ihnen beschwert haben: Leicht ist es nicht, sich unter diesen Umständen den Optimismus und die Lebensfreude zu bewahren. Man kann es schaffen, aber es kostet viel Kraft, und die hat eben nicht jeder."
Zur Erklärung: Die Frau hatte mich angerufen, nachdem sie meine Kolumne "Mehr Geld ist doch gut" auf der aktuellen Seite Leserforum gelesen hatte; es geht darin unter anderem um Anrufer, die sich bei mir beschwert hatten, weil in der Zeitung die Nachricht "VW zahlt 5900 Euro Bonus" erschienen war.
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