Corona-App "ein großes Experiment"

Bei der geplanten Corona-App flüchte die Regierung in die Arme von SAP und T-Systems, sagt Ingo Dachwitz von "Netzpolitik.org". Bisher sei aber nicht erkennbar, wie die beiden Firmen die App-Entwicklung meistern wollten. Mit Dachwitz sprach Berlin-Korrespondent Bernhard Walker.

Freie Presse: Gesundheitsminister Jens Spahn hat schon öfter Termine für den Start der sogenannten Corona Tracing App genannt. Es gibt sie aber bis heute nicht. Woran hapert es?

Ingo Dachwitz: Es gibt fraglos gute Gründe für eine solche App. Dass die Regierung und das Robert-Koch-Institut bisher keine vorgestellt haben, ist aber eher ein gutes Zeichen.

Warum?

Die App soll die Bluetooth-Technik nutzen. Diese Technik wurde noch nie für das sogenannte Contact Tracing genutzt. Die App betritt also technisches Neuland, das erst sorgfältig erschlossen werden muss.

Was genau leistet eine Corona-App?

In der Pandemie ist es entscheidend, die Ausbreitung des Virus möglichst zu unterbinden. Dazu verfolgen die Gesundheitsämter die Kontaktpersonen von Infizierten nach, und stellen sie unter Quarantäne, wenn auch sie sich angesteckt haben. Das ist ein zeitraubender und mühsamer Prozess, der mit der App einfacher würde.

Wie das?

Die App meldet einem Nutzer auf seinem Smartphone, dass er jemandem begegnet war, der infiziert ist. Und mit dieser Information kann der Empfänger der Meldung sich testen lassen und gegebenenfalls in Quarantäne gehen. Die Kette ist damit unterbrochen.

Berlin hat SAP und T-Systems mit der Entwicklung der App betraut. Schaffen die das?

Das können wir nur hoffen. In IT-Fragen fällt die Regierung nicht gerade mit Kompetenz auf. Erst setzte sie ganz auf den Ansatz, den das sogenannte PEPP-PT-Konsortium verfolgte. Das ist prominent im Digitalbeirat der Regierung vertreten und hat das Ohr von Kanzleramtschef Helge Braun. Dieser Ansatz, bei dem die Daten zentral gespeichert worden wären, fiel aber in sich zusammen. Jetzt flüchtet sich die Regierung in die Arme von SAP und T-Systems.

Wie ist der aktuelle Stand der App-Entwicklung?

Beide Firmen haben dazu bisher kaum etwas veröffentlicht, sodass die Grundlage für ein genaues Urteil fehlt.

Warum ist es technisch schwer, auf Basis von Bluetooth eine Contact-Tracing-App zu entwickeln?

Man muss vermeiden, dass ganz oft falscher Alarm ausgelöst wird. Also muss man wissen, wie lange jemand in welcher Distanz zu dem Infizierten war, damit eine Weitergabe der Infektion wahrscheinlich ist. Reichen dafür fünf Minuten? Oder sind es zehn? Und ergibt sich ein Infektionsrisiko, wenn jemand einen Meter von einem Infizierten entfernt war? Oder entsteht das in der Regel nur bei kleineren Abständen? Das sind wissenschaftlich zu klärende Risiko-Parameter. Die App ist eben ein großes Experiment, bei dem auch nach ihrem Start immer wieder nachjustiert werden muss - und sei es nur, damit die verschiedenen europäischen Apps interoperabel werden, das heißt salopp gesagt, bei Wahrung des Datenschutzes miteinander sprechen können.

Nachjustiert hat auch die Regierung. Sie setzt jetzt auf die dezentrale Datenspeicherung.

Das haben nicht zuletzt Apple und Google durchgesetzt, auf deren Technik fast alle Smartphones weltweit fußen.

Vertrauen Sie denen in puncto Datenschutz?

Ich vertraue darauf, dass der Bundes-Datenschutzbeauftragte, die Zivilgesellschaft und die Tech-Szene darauf achten, dass niemand Schindluder mit den Daten treiben kann. Denn auch wenn sie pseudonym bleiben, geht es um hochsensible Daten.

In Island hat nur etwa jeder Dritte die dortige Corona-App runtergeladen. Wie erklären Sie sich das?

Dieser geringe Verbreitungsgrad zeigt sich auch in anderen Staaten. Umso wichtiger ist, dass Deutschland eine vertrauenswürdige App bekommt. Deshalb ist es gut, dass die App laut Regierung freiwillig sein wird.

Der CDU-Europaabgeordnete Axel Voss meint, sie müsse verpflichtend sein, wenn die freiwillige Nutzung gering bleibe.

Diese Forderung ist Gift für die Debatte. Etwa 60 Prozent der Bürger müssen die App nutzen, damit sie hilft, Kontakte nachzuvollziehen und die Infektionsketten zu brechen. Wir müssen darauf setzen, dass dies mit einer vertrauenswürdigen App aus freier Entscheidung der Bürger gelingt. Bundeskanzlerin Merkel hat zu Recht betont, wie verantwortungsvoll sich die Bürger in der Pandemie verhielten. Auf diese Kraft des Bürgersinns dürfen wir keinesfalls verzichten, wenn wir nicht schweren Schaden riskieren wollen.

Worin bestünde der?

In möglicher Diskriminierung. Es darf nicht so sein, dass ein Arbeitgeber beispielsweise Druck macht, dass seine Beschäftigten die App nutzen - oder andernfalls Gefahr laufen, ihren Job zu verlieren. Die sozialethische Seite kommt bisher in der Debatte über die App zu kurz. Dabei ist sie zentral. Wir dürfen uns keinesfalls für einen sinnvollen technischen Fortschritt zur Pandemiebekämpfung einen gesellschaftlichen Rückschritt einhandeln.walk