Eine Zeit für Vergebung: "Der Polizist" von John Grisham

An 28 Verlage hatte John Grisham seinen ersten Roman "Die Jury" geschickt. Alle erteilten eine Absage. Und als der kleine Verlag Lynwood Press das Buch 1989 herausbrachte, wollte es kein Mensch lesen. "Mein Verleger war knapp bei Kasse, ich war noch knapper bei Kasse, aber ich wollte unbedingt etwas tun", erinnert sich John Grisham. Also kaufte er selbst tausend Exemplare, ein Fünftel der Auflage, und tingelte durch Buchhandlungen, um wenigstens ein paar zu verkaufen. "Mein Freund Bobby Moak und ich sind durch den ganzen Süden von Mississippi gefahren, mit einem Kofferraum voller Bücher. Heute lachen wir darüber, aber damals haben wir nicht geglaubt, dass aus meiner Schriftstellerkarriere noch etwas würde."

Mittlerweile hat der Autor mehr als 40 Bücher veröffentlicht, die sich in 42 Sprachen übersetzt mehr als 275 Millionen Mal verkauften. Weltweit gehört Grisham zu den erfolgreichsten Schriftstellern und belegte 2018 auf der Forbes-Liste der bestbezahlten Autoren mit 21 Millionen Dollar Platz vier hinter James Patterson ("Im Netz der Spinne"), J. K. Rowling ("Harry Potter") und Stephen King ("Es"). Mit seinem Justizthriller "Der Polizist" ("A Time For Mercy"), der es in den USA auf Platz 1 der Bestsellerliste schaffte, knüpft Grisham nahtlos an sein Debüt "Die Jury" an. Die Handlung spielt erneut in dem fiktiven Provinznest Clanton in Mississippi.

Wir schreiben das Jahr 1990. Jake Brigance ist jetzt 37 und träumt immer noch davon, sich als Anwalt einen Namen zu machen. Das aber ist nicht unbedingt leichter geworden, seit er seinen schwarzen Mandanten Carl Lee Hailey für schuldunfähig erklärt und ihm die Todesstrafe erspart hat, nachdem der die beiden Vergewaltiger seiner Tochter Tonya in Selbstjustiz erschossen hat.

Mit nur wenigen Strichen zeichnet Grisham, der selbst Baptist ist, die bigotte Atmosphäre im amerikanischen Bible Belt und führt das provinzielle Amerika vor. Immer wieder wurde ihm seine direkte Sprache vorgehalten, die aber ist durchaus eine Qualität. Grisham reiht sich ein in die lange Reihe exzellenter realistischer Erzähler, von denen Amerika so viele hervorgebracht hat. Dass ihm der Plot wichtiger ist als die Story, stimmt nur bedingt. Dafür ist sein Roman viel zu perfekt konstruiert. In Rückblicken und Abschweifungen entwirft er mit dem fiktiven Ford County einen literarischen Mikrokosmos, der nicht an das Yoknapatawpha County seines Landsmannes William Faulkner heranreicht, sich aber durchaus mit Kent Harufs Kleinstadt Holt oder Richard Russos North Bath messen lässt. Das ist echte Literatur, gar keine Frage.

Diesmal soll Jake Brigance den 16-jährigen Drew Gamble verteidigen, dem die Todesstrafe droht. Der Fall ist klar. Drew hat den Polizisten Stu Kofer erschossen, nachdem der mal wieder völlig betrunken nach Hause gekommen ist und Drews Mutter Josie verprügelt hat. Vor einem Jahr fand Josie mit ihren zwei Kindern Unterschlupf in Kofers Haus. Mehrmals schon musste sie den Streifenwagen rufen, weil er auf sie einprügelte. Auf eine Anzeige aber verzichtete sie, weil Kofers angerückte Kollegen die Sache ja eh hätten im Sand verlaufen lassen. Stu gilt als vorbildlicher Deputy. Nur wenn er trinkt, offenbart sich seine dunkle Seite. Wenn Josie wüsste, wohin, hätte sie ihn schon lange verlassen. Jetzt ist es zu spät. Stu hat sie bewusstlos geschlagen, und weil Drew denkt, sie wäre tot, erschießt er Stu mit dessen Dienstwaffe, um sich und Schwester Kiera zu beschützen.

Mit der Erfahrung, die er selbst als Anwalt sammelte, beschreibt Grisham das Gerichtsverfahren und die Winkelzüge der Advokaten - von der Auswahl der Geschworenen bis zu den Schlussplädoyers. Einen Trumpf landet Jake mit der 14-jährigen Kiera, die doch tatsächlich schwanger ist. Hat etwa Stu sie missbraucht? Grisham beschreibt das alles mit so viel Menschenkenntnis und juristischem Sachverstand, dass man das Buch nicht mehr aus der Hand legen möchte, obwohl man im Grund weiß, wie alles ausgehen wird. Jakes Anwaltskollegen Lucien Wilbanks und Harry Rex Vonner tauchen ebenso wieder auf wie Richter Reuben V. Atlee, der in "Die Erbin" (2013), dem zweiten Band der Jake-Brigance-Trilogie, schon eine Rolle spielte. Kein Zweifel: John Grishams Bücher sind intelligente Unterhaltung. Sie heben sich ab von den konstruierten Thrillern und den an den Haaren herbeigezogenen Krimis, die es sonst auf die Bestsellerlisten schaffen. Mit seinem neuen Roman "Der Polizist" ist ihm ein großer Wurf gelungen. Ohne Frage eines seiner besten Bücher.

Wie aktuell der Roman ist, zeigen die gegenwärtigen Proteste gegen Polizeigewalt in den USA. Sicher: Alles in dieser Geschichte ist politisch korrekt. Am Ende siegen die Richtigen. Trotzdem wird nie moralisiert. "Meine besten Bücher schreibe ich, wenn ich ein Anliegen habe", sagt Grisham. "Sei es die Todesstrafe, Obdachlosigkeit oder die Tabakindustrie. Hör mit dem Predigen auf, sagt meine Frau oft." Da aber flaxt er. Von einer Predigt haben seine Bücher wenig. Dafür sind sie viel zu spannend.