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Rohdiamanten

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Schimpfen bringt gar nichts, sagt der Waldemar. Er sitzt an unserem Esstisch, die Beine übereinandergeschlagen, und nimmt einen ordentlichen Schluck aus seiner Bierflasche. Das beste Bier übrigens seit fünf Tagen, sagt Waldemar. So lange habe er schon seine grünen Tage und demzufolge kein Bier mehr getrunken.

Schimpfen ist völlig falsch, sagt er. Dann macht er wieder eine kleine Pause. Waldemar ist unser Nachbar und Lebensberater. Ich hatte ihn schon erwähnt, weil er sehr schönen Rasen hat. Er ist ein bisschen älter als ich und weiß Bescheid. Er hat keine Kinder, aber eine Frau, die ihm sehr gut gelungen ist. Das Ergebnis einer jahrelangen Lobeshymne, wie er zu sagen pflegt: „Ich habe sie als Rohdiamanten kennengelernt und zum Edelstein gemacht.“ Jedenfalls hat sie eine Arbeit gefunden, die ihm ein sorgloses Leben ermöglicht, und das wollen wir für unsere Kinder auch.

Gerade hat Waldemar diese kleine Szene miterlebt: Kind 2 hat seinen Teller nicht abgeräumt, obwohl wir das so schön geübt haben. Kind 1 hat seinen Teller nicht abgeräumt, obwohl wir das so schön geübt haben, und klemmt sich mit seinem Kumpel aufs Sofa, um in ohrenbetäubender Lautstärke Super-Mario-Kart zu fahren. „Leiser. Und räumt die Teller weg!“ Ich brülle, sonst hört mich ja keiner. Waldemar schüttelt den Kopf, so wird das nichts, und brüllt: „Kind 1, Kind 2! Ihr habt so eine schöne Spülmaschine. Ich finde den Gedanken so schön, eurer Mutter die Freude zu machen, mein Geschirr selbst dahinzubringen.“ Beide springen auf, der Kumpel hinterher, und räumen den Tisch ab. Komplett. „Dieses Bier war wunderbar. Und so schön gekühlt. Leider ist es leer“, sagt Waldemar. Kind 1 eilt zum Kühlschrank und holt ihm eine zweite Flasche. Kind 2 und der Kumpel befragen den Rest der kleinen Esstisch-Runde nach Getränkewünschen und servieren. Meiner Freundin, die mit am Tisch sitzt und Waldemar nicht kannte, steht der Mund offen. Sie ist die Mutter des Kumpels und sieht in Waldemar den Popstar der Lebensberater, sie sieht seinen Stern ganz hell leuchten. Er könnte Vorträge im Lehrerkollektiv halten – „Schön, liebe Kinder, wie interessiert ihr seid an der Rolle der Bedeutung! Und wie stolz ich darauf bin, dass die meisten von euch am Tisch sitzen und nicht darunter liegen!“ Eine neue, friedliche Generation könnte erblühen, würde unser Zusammenleben von Lob geprägt.

Ich nehme nun das Lob als Schleifpapier für meine Rohdiamanten. Ich hoffe, dass ich keine Kieselsteinchen erwischt habe.

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