Auch auf die gegen Beate Zschäpe erhobenen Vorwürfe der vollen Tatbeteiligung setzte Narin mit einem Beweisantrag eine Art I-Tüpfelchen. Keiner wirft Zschäpe vor, je selbst geschossen, je eine Bombe platziert zu haben. Der Vorwurf "Mittäterschaft an allen NSU-Taten" fußt auf dem Gruppenwillen, der bei einer arbeitsteilig vorgehenden Terrorvereinigung per Gesetz unterstellt werden darf. Dem Vorwurf steht Zschäpes Beteuerung entgegen, die Taten der Uwes nie gutgeheißen zu haben. Nur passt das überhaupt nicht zur Aussage eines Zeugen, den man auf Narins Antrag zum Prozess lud.
Der Anwalt war in den Akten auf die Aussage eines Berliner Wachpolizisten aus dem Jahr 2000 gestoßen, die außer ihm niemand beachtet hatte. Monate vor dem ersten NSU-Mord hatte besagter Polizist Mundlos und Zschäpe beobachtet, wie sie an der Berliner Synagoge über Kartenmaterial brüteten. Dem Wächter kam es wie ein Ausspähen vor. Als er noch am gleichen Abend Fahndungsfotos von Mundlos und Zschäpe im Fernsehen sah, erkannte er die beiden wieder. Zielgenau pickte er Mundlos und Zschäpe auch aus ihm vorgelegten Fotos als diejenigen heraus, die er an der Synagoge gesehen hatte. Ein NSU-Anschlag gegen die Berliner Synagoge ist nicht bekannt, doch liegt nahe, dass die scharfe Überwachung im Umfeld des jüdischen Gotteshauses abschreckte.
Mundlos und Zschäpe waren nach Aussage des Polizisten nicht allein. Bei den weiteren Personen, die er beschrieb, gehen Opferanwälte anhand von Observationsfotos, die im zeitlichen und örtlichen Umfeld entstanden, mit "erheblicher Wahrscheinlichkeit" davon aus, dass es sich um den Chemnitzer Jan W. und dessen zeitweise Freundin Annett W. handelte, zusammen mit zwei Kindern der letzteren. Jan W. war Sachsen-Chef der Neonazi-Vereinigung Blood & Honour (B&H) und soll dem NSU eine der ersten Schusswaffen beschafft haben.
Seine damalige Freundin Annett war vor ihm mit dem jahrelangen Deutschland-Kopf der Blood-&-Honour-Bewegung liiert gewesen, dem damals in Berlin wohnhaften, oft in Chemnitz verkehrenden Rechtsextremisten Stephan L. Dieser zog später nach Ludwigsburg in Baden-Württemberg, wohin der NSU ebenfalls dichte Bande geknüpft hatte.
Im September 2000 wurde B&H verboten. Doch auch danach wurde Stephan L. noch bei illegalen Konzerten, wie B&H sie stets veranstaltet hatte, festgenommen, etwa 2001 in Chemnitz. Und 2017 wurde Stephan L. enttarnt. Der Mann, der in der Szene den Spitznamen "Pinocchio" trug, war über Jahre als V-Mann "Nias" geführt worden - vom Bundesamt für Verfassungsschutz.
Die allgegenwärtige Nähe von Geheimdiensten zum nächsten Umfeld des NSU-Kerntrios, zu jener verzweigten Helferschar, die Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe erst beim Abtauchen half, dann bei deren Bewaffnung und bei finanzieller Unterstützung, all das macht es schwer zu erkennen, wo die Neonazi-Szene endete und wo der Einfluss staatlicher Organe begann.
Angesichts der an allen Enden des NSU-Komplexes immer wieder neu aufploppenden Merkwürdigkeiten, beendete Anwalt Narin sein eigenes Plädoyer im Prozess in der Vorwoche mit einem Wunsch an den Senat: "Haben Sie den Mut, auch auszusprechen, was dieser Prozess nicht leisten konnte, wo er unvollkommen bleiben musste. Haben Sie den Mut, nicht so zu tun, als sei alles in Ordnung. Ich bin überzeugt davon, dass dieser Senat ein Urteil fällen wird, das der Revision standhält. Ich darf an Sie appellieren: Sprechen Sie ein Urteil, das auch vor der Geschichte Bestand hat."
Ein Satz, so bedeutungsschwer, dass ihn auch Tony Petrocelli hätte gesprochen haben können. Die fiktive Figur des US-Strafverteidigers italienischer Herkunft, der sich in der gleichnamigen TV-Serie stets mit eigenen Ermittlungen für Mandanten einsetzt, erlangte in den 70er-Jahren im Westen Deutschlands Kult-Status. Auch bei Yvonne Boulgarides.
"Du bist unser Petrocelli", hatte die Witwe des griechisch-stämmigen Mordopfers ihren türkisch-stämmigen Anwalt einmal mit der italienisch-stämmigen Filmfigur verglichen, die im besseren Sinn amerikanische Werte hochhält. Er habe sich das erst erklären lassen müssen, da er die Serie nicht kannte, verriet Narin einmal im Gespräch mit der "Freien Presse". Zufällig hatte der Reporter ihm gegenüber exakt denselben Vergleich gewählt wie einst seine Mandantin. Der türkisch-deutsche Petrocelli sucht nach der Wahrheit.
Eine Suche, die nicht zu Ende ist, wie Yvonne Boulgarides sagte: "Wir alle sollten auch nach diesem Prozess nicht aufhören, nach Antworten zu suchen. Vielleicht werden wir nie alles erfahren, aber wir werden die unzähligen Puzzleteile sammeln und zusammenfügen, bis das Bild der Wahrheit vor unseren Augen zu erkennen ist."
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