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Ein Jahr Zeitenwende: Das ist die Bilanz von Olaf Scholz

Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet und milliardenschwere Auf-rüstung der Bundeswehr: Vor einem Jahr läutete der Bundeskanzler die Zeitenwende in der deutschen Sicherheitspolitik ein. Was hat sich seitdem getan?

Berlin.

Es sind Sätze, die wie Hammerschläge klingen. Bundeskanzler Olaf Scholz, der einst Zivildienstleistender in einem Pflegeheim war, trägt sie - für seine Verhältnisse - militärisch schneidig vor. Er spricht im Bundestag seine berühmten Worte von der "Zeitenwende" - davon, dass die Welt nicht mehr dieselbe sei. Es gehe darum, "Kriegstreibern wie Putin" Grenzen zu setzen. Scholz kündigt ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr an - und auch Waffenlieferungen an die Ukraine.

Doch der Sozialdemokrat, zu diesem Zeitpunkt keine drei Monate im Amt des Regierungschefs, sagt damals auch, er wisse, "welche Fragen sich die Bürgerinnen und Bürger in diesen Tagen abends am Küchentisch stellen, welche Sorgen sie umtreiben angesichts der furchtbaren Nachrichten aus dem Krieg". Er spricht in diesem Moment leiser. Dann hält er kurz inne.

 

Deutschland wurde überrascht - trotz Warnungen

Genau ein Jahr ist diese Kanzlerrede nun her, gehalten drei Tage nach Kriegsbeginn. Die Bundesregierung wurde damals von Putins Angriffskrieg überrascht - trotz der Warnungen der USA. Der Kanzler gab seine politische Antwort auf Putins Angriffskrieg nicht ad hoc, aber er reagierte mit der Rede zur Zeitenwende doch kraftvoll innerhalb weniger Tage. Danach geriet er aber, gerade in der Debatte über Waffenlieferungen, immer wieder in den Ruf des Zauderers.

Wie hat der heute 64-Jährige sein erstes Jahr als Kriegskanzler wider Willen bewältigt? Wie trifft der Bundeskanzler Scholz in diesen Zeiten seine Entscheidungen? Warum kommuniziert er mitunter so, als wäre es ihm egal, ob irgendjemand nachvollziehen kann, was er tut?

Scholz hält sich für einen schlauen Typen

Scholz ist klug. Und er hält sich auch selbst für einen wirklich schlauen Typen. Das kann der nüchterne Hamburger, der im Wahlkampf viel über Augenhöhe gesprochen hat, seine Mitmenschen auch spüren lassen. Der Kanzler hat sich in den vergangenen zwölf Monaten immer wieder Zeit für Entscheidungen gelassen. Darin steckte gelegentlich auch eine Spur Trotz. Scholz ist keiner, der sich gern zu Entscheidungen drängen lässt - auch wenn die politische Konkurrenz oder die Öffentlichkeit es versuchen.

Die langsame Entscheidungsfindung lässt aber auch erkennen, dass der Mann, der sich selbst bis an die Grenze zur Überheblichkeit für einen exzellenten Politiker hält, mit einem gehörigen Maß an Demut vor den Entscheidungen gestanden haben muss, die er zu treffen hatte. Schon seine Vorgängerin Angela Merkel hat spätestens in der Euro-Krise festgestellt: Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob jemand als Experte nur sagen muss, wie es funktionieren könnte. Oder ob man es als Regierungschefin oder Regierungschef in letzter Konsequenz entscheiden muss. Und damit auch die Verantwortung für das übernehmen muss, was schiefgeht - selbst wenn dieser Ausgang als unwahrscheinlich gegolten hat.

Es hätte noch schlimmer kommen können

Ganz klar, es hätte viel schiefgehen können. Unterm Strich hat vieles einen besseren Ausgang genommen, als zu befürchten gewesen wäre. Wenn die Gasspeicher leergelaufen wären, hätte Deutschland ins wirtschaftliche Desaster stürzen können - mit irreparablen Schäden für die Industrie. Die Hilfen für die Menschen wegen der hohen Energiepreise und der Inflation kamen - wegen des ständigen Streits zwischen den Partnern in Scholz' komplizierter Ampelkoalition - teils verspätet und erreichten nicht immer die Richtigen. Doch welcher Bürger würde, wenn er ehrlich ist, eine solche Krise lieber in einem anderen europäischen Land erleben?

Beim Thema Waffenlieferungen für die Ukraine hatte Scholz von Anfang an den festen Willen, zurückhaltend zu kommunizieren. Das ist für einen Politiker ein problematisches Konzept. Denn natürlich gilt auch in diesem Fall, wie der Kommunikationswissenschaftler Paul Watzlawick einmal festgestellt hat: "Man kann nicht nicht kommunizieren." Auch wer schweigt, sendet damit Botschaften, die frei zur Interpretation sind.

Klar ist: Wer - wie Scholz - oft lange wenig sagt und sich dann an einem bestimmten Punkt zu Wort meldet, weckt in einer solchen Situation Erwartungen. Das größte kommunikative Desaster, in das der Kanzler im vergangenen Jahr geschlittert ist, war eine Pressekonferenz am Dienstagabend nach Ostern. Scholz hatte eine Videoschalte mit US-Präsident Joe Biden, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und anderen wichtigen Staatenlenkern gehabt - und lud für eine Stellungnahme danach die Presse ein. Dann hatte er wenig mehr zu bieten als verwirrende Schachtelsätze und den Hinweis, Deutschland stelle bereits "Waffen mit erheblicher Auswirkung" zur Verfügung. Das überzeugte niemanden.

In der Leopard-Debatte bewies Scholz seine Sturheit

Der Kanzler ist stets vorsichtig, tastend mit dem Thema Waffenlieferungen umgegangen. Scholz bewegte sich langsam - gemeinsam mit anderen Verbündeten, aber nie als Antreiber. Er arbeitete sich von der Bereitschaft, einen Waffentyp zu liefern, zur Bereitschaft für die Lieferung des nächsten Waffentyps vor. Stück für Stück wurde das, was einmal unvorstellbar schien, Realität. Rote Linien verschoben sich. Doch eine komplett irrationale Reaktion Putins, die auch in der deutschen Bevölkerung viele Menschen befürchteten, blieb aus. Kritiker sagen, die deutsche Zögerlichkeit habe viele Ukrainer das Leben gekostet.

In der Debatte über die Leopard-Panzer bewies Scholz, wie stur er sein kann. Er machte den Weg für die Lieferung der Leoparden nicht frei, ohne dass die USA sich bereit erklärten, ebenfalls Kampfpanzer zu liefern. Die Vereinigten Staaten, die den technisch komplizierten Abrams-Panzer eigentlich außenvorlassen wollten, lenkten ein. Deutschland und die USA sollen unbedingt in einem Boot sitzen. Darauf kam es Scholz vor allem an.

Stimmungen kann der Kanzler lange ausblenden

Auf der Habenseite des Kanzlers steht nach einem Jahr Krieg in der Ukraine, dass er - wie nun bei seiner Indienreise - viel Arbeit in das Projekt gesteckt hat, auch mit den Ländern des globalen Südens zu reden, deren Unterstützung für den Kurs des Westens nicht selbstverständlich ist. Doch Scholz hat sich auch grobe Fehler geleistet. Er hat nicht zuletzt unterschätzt, wie wichtig ein schneller Besuch in der Ukraine allein schon symbolisch gewesen wäre. Viel zu lang hat er an seiner überforderten Verteidigungsministerin Christine Lambrecht festgehalten, mit der für die Bundeswehr zu wenig voranging.

Scholz' Stärke wie Schwäche ist, dass er aktuelle Stimmungen lang ausblenden kann. Das lässt ihn gelegentlich als jemanden erscheinen, der sich für das, was um ihn herum passiert, gar nicht richtig interessiert. In der SPD hoffen sie, dass die Menschen vor der nächsten Bundestagswahl sagen: "Mit diesem Kanzler sind wir gut über schwierige Jahre gekommen." Der Kanzler jedenfalls verteidigt seinen Kurs, auch bei den Waffenlieferungen. Alles müsse im Einklang mit den Verbündeten geschehen, sagte Scholz zum Jahrestag des Kriegsbeginns in der ZDF-Sendung "Maybrit Illner". Er wehre sich gegen alle, die vorschlügen, dass man vorpreschen solle. "Die Bürgerinnen und Bürger können sich darauf verlassen, dass ich mich nicht kirre machen lassen werde."

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