Im Schlafwagen von Prag nach Rijeka: Wie es um die Wiedergeburt der Nachtzüge in Europa steht
Er war totgesagt, nun soll der Nachtzug Flüge überflüssig machen. Der Weg dahin ist zwar weiter als der von Böhmen an die Adria. Doch Europa startet ins neue Bahnzeitalter. Eine Reportage direkt von der Bahnsteigkante.
Rijeka.Es ist Musik in manchen Ohren. Mal zirpt es wie eine Heuschrecke, dann quietscht es wie Türen eines alten Verlieses. Dann ein Stapfen, du-dumm, du-dumm, du-dumm, du-dumm. Es folgt ein helles, vielstimmiges Klingeln, als wäre es Weihnachten und man säße direkt neben Santa Claus in einem über und über mit Schellen behangenen Schlitten.
Es ist aber nicht Weihnachten, sondern Anfang September. Obwohl es so schaukelt, sitzt man nicht im Schlitten neben Santa Claus, sondern im Liegewagen neben Jens Kroh. Der Zug schlängelt sich wie Poskok, die Hornotter, durchs kroatische Hinterland. Jens Kroh reckt und streckt sich. Der Mann aus Jena ist mit seiner Partnerin Marketa Lasáková aus Tschechien auf dem Weg in den Urlaub. Beide haben gut geschlafen und sind gut gelaunt. "Mit dem Nachtzug hat man mehr vom Tag. Der Biorhythmus bleibt erhalten." Und die Geräusche und das Geschaukel? "Das gehört dazu." Seit 2020 betreibt das private tschechische Verkehrsunternehmen Regiojet während der Sommersaison den Nachtzug von Prag an die Adria. Es begann mit Rijeka, 2021 kam ein zweiter Zugteil nach Split dazu. Regiojet ist damit Teil eines Trends, mit dem vor wenigen Jahren noch nicht zu rechnen war: die Wiedergeburt der Nachtzüge in Europa.
Daran arbeiten mehrere Bahnunternehmen, allen voran die Österreichischen Bundesbahnen (ÖBB), die das Netz ihrer Nightjets stetig erweitern. Aber auch private Anbieter. Sie wissen die Politik an ihrer Seite. Und das Interesse der Fahrgäste. "2019, im Jahr vor Corona, hatten wir 1,5 Millionen Fahrgäste, Tendenz steigend", sagt ÖBB-Sprecher Bernhard Rieder. "Auch diesen Sommer sind wir praktisch ausgebucht gewesen." Der Regiojet nach Kroatien ist an diesem Tag ebenfalls voll. Familien mit Kindern fahren ebenso mit wie junge Leute. Manches Abteil war abends eher eine Disko. "Es hat etwas von einem Abenteuer", sagt Zugbegleiterin Tereza Cibulková.
Dabei waren Nachtzüge schon einmal totgesagt. Verbindungen wurden mehr und mehr zusammengestrichen, vor fünf Jahren trennte sich die Deutsche Bahn vollends von ihrer Nachtzug-Sparte. Dabei ist das Konzept genial: Eine Nacht im Hotel sparen, ausgeruht ankommen, am Ziel in den Tag starten. Der Belgier Georges Nagelmackers brachte die Idee 1867 aus Amerika mit. Mit dem Orient-Express, der Mutter aller Nachtzüge, verhalf er ihr zum Durchbruch. Noch 1988 wies der Fahrplan von Karl-Marx-Stadt Hauptbahnhof mehrere nächtliche Direktverbindungen aus: Nach Binz, nach Rostock, nach Wolgast und, an einzelnen Tagen, nach München und Warschau. Noch Mitte der 1990er-Jahre gab es rund 100 länderübergreifende Nachtzugverbindungen in Europa und ebenso viele innerhalb von Landesgrenzen, sagt Martin Randelhoff von der Technischen Universität Dortmund.
Literaten aller Welt schätzen Nachtzüge als Schauplätze spannender Geschichten, von Agatha Christie über Pascal Mercier bis Steffen Kopetzky. Doch Billigflieger und Fernbusse setzten den Nachtzügen zu. 30 Millionen Euro Verlust fuhr die Deutsche Bahn am Schluss mit ihnen ein. Zur Wahrheit gehört aber auch: Das bundeseigene Unternehmen hatte die Nachtzugflotte über die Jahre vernachlässigt. An den Wagen war nur noch das Nötigste repariert worden. Die meisten der Züge hatten mehr als 40 Jahre auf dem Buckel. Es wären erhebliche Investitionen nötig gewesen. Ende 2016 zog der Konzern die Reißleine. Die Entscheidung sorgte für Protest, mehr als 25.000 Menschen unterschrieben eine Petition zur Rettung der Nachtzüge. Es nützte nichts.
Bei der ÖBB allerdings glaubte man an das Konzept. Die Österreicher übernahmen einen Teil des Nachtzug-Geschäfts der DB. Das habe sich längst als richtige Entscheidung erwiesen, findet ÖBB-Sprecher Rieder. "Heute steht der Nightjet als Synonym für klimafreundliches Nachtreisen in Europa."
Im Regiojet hat Tereza Cibulková derweil nach der Nachtruhe ihren Dienst angetreten und serviert das Frühstück: Ein Kaffee im Becher und ein Croissant. Nicht unbedingt das, was Fahrgäste im Orient-Express zufriedengestellt hätte. Aber sicher wäre Betreiber Nagelmackers auch nicht mit Preisen ab 19 Euro für den Sitzplatz oder ab 29 Euro für den Liegewagen einverstanden gewesen. Es ist Tereza Cibulkovás zweite Saison im Zug. Das Unterwegssein mag sie. "Es ist ein Job für junge Leute. Wenn man allein ist, ist es perfekt." Sie ist für drei Waggons zuständig, serviert Speisen und Getränke. "Manchmal ist es ganz schön hart." Einen Speisewagen hat der Regiojet nicht.
Der Zug hat etwa eine halbe Stunde Verspätung. Wie sich herausstellt, ein sehr guter Wert. "Wir sind fast jeden Tag zu spät", räumt sie ein. (Auf der Rückfahrt werden es in Prag viereinhalb Stunden sein.) Kroatiens Eisenbahn steht grundsätzlich nicht für Pünktlichkeit. Dazu bleibt der Zug oft stundenlang in der Grenzstation zwischen Ungarn und Kroatien hängen. Und: An mehreren Grenzen muss die Lok gewechselt werden. Auch das dauert oft länger als vorgesehen.
Das mag das Klischee eines gewissen Schlendrians bedienen, ist aber auch Sinnbild der zersplitterten Eisenbahnlandschaft. Zwar darf in der EU seit 2007 prinzipiell jedes Bahnunternehmen Fahrgäste an Bahnhöfen einer grenzüberschreitenden Strecke aufnehmen oder absetzen. In der Praxis aber tun sich viele Hürden auf. Jedes Land hat eigene Zulassungsverfahren, eigene Leit- und Sicherungstechnik. Anforderungen ans Personal variieren ebenso wie Bahnsteighöhen. Selbst der Strom aus der Oberleitung ist nicht derselbe. Die Systeme reichen von 1,5 über 3 bis zu 15 oder gar 25 Kilovolt. Manchmal gibt es verschiedene Systeme innerhalb eines Landes. Nur Mehrsystemlokomotiven kommen mit unterschiedlichen Spannungen klar.
All das behindert Investoren. Chris Engelmann, einer der Gründer des Startups European Sleeper, hätte sich die Planung der Verbindung von Prag über Dresden nach Brüssel einfacher vorgestellt, räumte er im "International Railway Journal" ein. Mit jedem Land an der Strecke aber gelte es einzeln in Verhandlung zu treten. Das erschwere die Etablierung neuer Routen. Fahrgäste hingegen vermissen ein einheitliches Ticketsystem. Wer einen Anschlusszug benötigt und die Bahngesellschaft wechselt, benötigt oft ein neues Ticket. Das gilt auch für Regiojet: 29 Euro für den Liegewagen nach Rijeka sind günstig. Der Preis für die Anreise von Dresden nach Prag kommt aber noch obendrauf.
Die EU aber hat Handlungsbedarf erkannt. Ziel des neuen Aktionsplans Schiene: den Hochgeschwindigkeitsverkehr bis 2030 zu verdoppeln und bis 2050 zu verdreifachen. Davon sollen auch Nachtzüge profitieren. Damit findet der Plan auch Gefallen beim Verband Pro Bahn, der seit Jahren gleiche Wettbewerbsbedingungen für die Schiene anmahnt. Würden Förderungen und Subventionen für deutlich klimaschädlichere Verkehrsträger beendet, seien Nachtzüge grundsätzlich gegenüber dem Flugzeug konkurrenzfähig, heißt es. "Hier sind zu nennen: die Energiesteuerbefreiung für den Luftverkehr, aber auch die Mautbefreiung für Pkw und Busse, während alle Züge auf allen Strecken eine Schienenmaut zahlen müssen", zählt Pro-Bahn-Sprecher Dennis Junghanns auf. "Internationale Flugtickets sind außerdem von der Mehrwertsteuer befreit, während sie für internationale Zugtickets bis zur Grenze fällig ist." Mit dem Aktionsplan stellt die EU bei Mehrwertsteuer und Trassenpreisen Verbesserungen in Aussicht. Auch ein einheitliches Ticketsystem wird als Ziel genannt.
Verkehrspolitiker Matthias Gastel von den Grünen begrüßt daher den Aktionsplan. Es müsse aber auch Deutschland bei den Nachtzügen eine aktivere Rolle einnehmen. Unter seiner Federführung entwarfen die Grünen eine Vision für ein europaweites Netz. "Grundidee ist, dass Nachtzüge Hochgeschwindigkeitsstrecken nutzen", sagt Gastel. "Dann sind Entfernungen von 1500 bis 2000 Kilometer möglich." Die Vision umfasst Direktverbindungen wie von Frankfurt nach Edinburgh, von Prag nach Stockholm und von München nach Neapel. Dafür brauche es vereinfachte Rechtslagen. Und Deutschland fehle es als einzigem europäischen Land an einem nationalen Aufgabenträger. "Hier herrscht Wildwest", kritisiert Gastel. "Es gibt keine Abstimmung, keine Koordination, keine Instanz, die dafür sorgt, dass das Angebot aufeinander abgestimmt wird." Nötig sei zudem ein moderner Fuhrpark. "Es gibt viele ältere Fahrzeuge, die den heutigen Ansprüchen nicht mehr gerecht werden. Die Leute wollen nicht mehr im Sechser-Abteil liegen, in dem vielleicht noch der eine schnarcht." Die ÖBB arbeiten schon an Schlafkabinen mit mehr Intimsphäre. Gastel ist überzeugt: Mit all dem kann ein europäisches Nachtzugnetz viele Kurz- und Mittelstreckenflüge überflüssig machen. Bis dahin wird es freilich noch dauern.
Der Regiojet aus Prag hat nach 17 Stunden Rijeka erreicht. Zuletzt ging es an einem beschrankten Bahnübergang über die Hauptverkehrsachse der Stadt. Für Fahrgäste, die die Weiterreise auf eine der umliegenden Inseln gebucht haben, stehen Busse bereit. Tereza Cibulková hat nun bis zum Abend frei. Die Zeit verbringt sie am Strand. Es ist eben ein Traumjob. Würde sie privat auch den Nachtzug nehmen? Sie antwortet mit einer Mischung aus Abwägen und Kopfschütteln. Mit dem Flugzeug geht es eben doch schneller. Jedenfalls noch. (mit dpa)
Nachtzugstrecken durch Deutschland
Nightjet der ÖBB:
Wien-München-Stuttgart-Paris
Wien-Frankfurt-Köln-Amsterdam
Zürich-Freiburg-Frankfurt-Hamburg
Berlin-Frankfurt/O.-Wrotzlaw-Wien
München-Udine-Venedig
München-Florenz-Rom/Mailand
Euro Night:
München-Rijeka
Moskau-Paris (derzeit kein Betrieb!)
Private Anbieter (saisonal)
Alpen-Sylt-Express: Westerland/Sylt- Hamburg-Basel/Salzburg
Snälltåget: Berlin-Hamburg-Kopenhagen-Malmö-Stockholm
Geplant
2022 Prag-Dresden-Berlin-Brüssel- Amsterdam (European Sleeper)
2022 Hamburg-Stockholm (SJ)
2024 Zürich-Leipzig-Dresden-Prag (ÖBB/SBB)
2024 Berlin-Paris (ÖBB Nightjet)
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