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Chronisches Fatigue Syndrom: Christoph kann nur noch drei Minuten stehen

Das Chronische Fatigue Syndrom kann Menschen zu Pflegefällen machen. Es entsteht nach Virusinfekten - auch nach Corona. Bayern bezahlt nun eine Medikamentenstudie. Wie sie läuft und wem sie Hoffnung gibt.

Mittweida/Wernsdorf.

Im Februar war er zum letzten Mal draußen. Seine Eltern schoben ihn im Rollstuhl durch den Park, durch die Wintersonne. Abends sagte er, dass es hell gewesen sei und laut. Aber irgendwann werde es sein wie früher. Es lässt sich schwer sagen, wem er mehr Mut machen muss. Sich selbst oder seinen Eltern, seiner Frau.

Christoph Bauer liegt auf dem Sofa, die Gardinen dämpfen das Sonnenlicht. Er schiebt sich Haarsträhnen hinter die Ohren. Der Mann im Spiegel, das lange Haar, so kennt er sich nicht. Im November war er das letzte Mal beim Friseur. Später, als er im Bett lag, habe er geglaubt, alles kippe und er kippe mit. Blitze, die sich hinter seiner Stirn entluden. Irgendwann werde er wieder zum Friseur gehen können, sagt Christoph Bauer. Wenn er duscht, sitzt er im Schneidersitz auf dem Boden. Stehen kann er drei Minuten. Vier vielleicht. Es reicht zum Zähneputzen.

Er zieht die Wolldecke bis zur Brust. An der Wand eine Tafel mit Bibelversen. Einmal in der Woche besucht ihn seine Frau. Er kann reden, aber kaum zuhören. Zehn Minuten, nie länger als dreißig. Also erzählt er. Manchmal fühlt er sich stark genug, um den Kleinen zu sehen. Sein Sohn ist eineinhalb. Er läuft und brabbelt. Das Leben, das seinen Weg geht, während der Vater ruht.

Im Februar hatten Bauarbeiter begonnen, am Mietshaus der jungen Familie in Chemnitz den Putz abzuhacken. Die Geräusche würden alles noch schlimmer machen, sagte Christoph Bauer zu seinen Eltern. Sie entschieden, dass er für ein paar Tage in sein Elternhaus nach Mittweida zieht, um sich zu erholen.

Die Tage wuchsen zu Wochen, die Wochen zu Monaten. Seit Februar wacht er morgens um sieben in der freien Wohnung im Erdgeschoss seines Elternhauses auf, die die Familie für Studenten eingerichtet hatte. Er wechselt vom Bett auf das hellgrüne Plüschsofa, die Eltern bringen ihm Kaffee in der silbernen Thermoskanne, ein Brötchen. Es beginnen fünfzehn Stunden, die er auf diesem Sofa liegen wird.

Was hätte er tun sollen, umgeben von der Lebendigkeit eines Kleinkindes? "Diese Reize sind leider völlig zu viel", sagt seine Mutter.

Deshalb ist Christoph Bauer hier geblieben. Ein schmales, blasses Gesicht, beinahe jungenhaft. Christoph Bauer ist 33 Jahre alt. Das meiste seiner Geschichte erzählen Rainer und Astrid Bauer, seine Eltern. Er hat sie darum gebeten. Er hat Energie für ein paar Episoden, aber nicht für die ganze Geschichte.

Christoph Bauer sagt: "Ich muss aufpassen, dass ich nicht in der Vergangenheit von mir erzähle. Ich bin immer noch Groundhopper." Das sind Fußballfans, die sich überall auf der Erde Fußballspiele anschauen und die Länder, in denen sie stattfinden. Er habe schon über achtzig Länder besucht. Mosambik, Brunei, Lesotho. Das letzte Land war Brasilien im März 2020. Sie wollten eigentlich noch nach Paraguay und Uruguay, aber dann war die Coronapandemie ausgebrochen und sie mussten zurück nach Deutschland.

Im Februar vergangenen Jahres hatte er einen Schwächeanfall. Da ging es los. Ein Krankenschein. Erst zwei Wochen, dann drei Monate, dann Wiedereingliederung. Ein neuer Schwächeanfall, ein neuer Versuch. In seinem Blut Autoantikörper, die sein Immunsystem bekämpfen.

Christoph Bauer weiß nicht, weshalb er krank wurde.

Fast 400.000 Betroffene in Deutschland

Im März hatte die "Freie Presse" über ME/CFS berichtet. Die Geschichte hatte damit begonnen, dass eine junge Frau aus Kriebstein der Redaktion einen Brief geschrieben hatte: "Bitte schenken Sie mir heute einen Augenblick Ihrer wertvollen Zeit." Sie wollte auf eine Krankheit aufmerksam machen, die es schon lange gibt, aber erst durch Corona allmählich ein Begriff wird in Arztpraxen, Kliniken und bei den Betroffenen selbst, die oft lange nicht wissen, weshalb es ihnen schlecht geht. Die fünf Buchstaben ME/CFS stehen für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Eine schwerwiegende Autoimmunerkrankung, die durch Virusinfektionen ausgelöst wird. Der Körper verträgt keine Belastung mehr, deshalb sprechen Mediziner vom Chronischen Erschöpfungssyndrom. Sport mache alles schlimmer, sagt die Berliner Professorin Carmen Scheibenbogen. Sie arbeitet an der Charité am Institut für Medizinische Immunologie und ist eine der wenigen Medizinerinnen und Mediziner in Deutschland, die ME/CFS erforschen.

Das Coronavirus kann ME/CFS auslösen, das Epstein-Barr-Virus, genauso gut eine Reihe anderer Viren. Vor Corona litten daran bundesweit rund 300.000 Menschen, mit der Pandemie kamen 100.000 hinzu. Das sind Schätzungen, weil es keine Statistik gibt und viele Patienten zunächst in Psychiatrien behandelt werden. Oft erkranken Jugendliche, weil ihr Immunsystem besonders aktiv ist.

An einem Abend Mitte Mai steht die junge Frau aus Kriebstein mit ihrem Freund vor der Stadtkirche von Waldheim. Sie hatte gehofft, dass sie für diesen Moment Kraft haben würde, sagt Saskia Körner. Der Pfarrer ihrer Gemeinde lässt den Kirchturm von Waldheim in der Abenddämmerung blau leuchten, weil das blaue Licht an diesem Tag weltweit auf die Krankheit aufmerksam machen soll.

Saskia Körner fragt sich nur noch selten, wie viel so eine Botschaft wert ist, wenn niemand weiß, welchen Zweck sie erfüllen soll. Denn allmählich werde sie gesehen, glaubt Saskia Körner. Seit ihre Geschichte in der Zeitung stand, melden sich Betroffene und deren Angehörige bei ihr. Sie erzählen ihre eigenen Geschichten: Der junge Vater, der zurück zu seinen Eltern zieht und tagsüber im abgedunkelten Zimmer liegt. Der Lehrling, der seit drei Jahren krank geschrieben ist. Der mit 22 nicht mehr zocken kann, weil das Zocken zu viel Kraft kosten würde.

Das Erschöpfungssyndrom ME/CFS bekommt durch Corona Aufmerksamkeit von Politikern, von Forschern und Medien. Das ist noch lange nicht das Happyend der Geschichte. Wer mit Bettina Hohberger aus Erlangen spricht, bekommt eine Ahnung davon, wie mühsam der Weg ist, den Betroffenen zu helfen.

Bettina Hohberger ist Augenärztin und Molekularmedizinerin an der Uniklinik in Erlangen. Vergangenes Jahr hatte sie bei einem Patienten mit Grünem Star das Medikament BC 007 eingesetzt. Eigentlich ein Herzmedikament, die Zulassungsstudie für diese Erkrankung läuft noch. Es soll die Durchblutung verbessern und schlechte Eiweißstoffe neutralisieren, die bei verschiedenen Krankheiten eine Rolle spielen könnten. Eine Forschungsgruppe der Universität Erlangen und der Firma Berlin Cures fand heraus, dass es auch anderen Patienten helfen könnte. Bettina Hohbergers Patient litt nicht nur am Glaukom, dem Grünen Star, er hatte auch Long Covid. Wenige Wochen nach der Medikamententherapie sei es ihm wieder gut gegangen.

Der lange Weg eines Medikaments

Ihre Klinik bekam zunächst vom Bund Geld für eine Studie ausschließlich mit Long-Covid-Patienten bewilligt. Im April genehmigte der Freistaat Bayern eine zweite Studie: Bettina Hohberger darf erforschen, wie BC 007 Patienten helfen kann, die an ME/CFS leiden, ohne dass sie zuvor Corona hatten.

Hohberger, die zwei Doktortitel hat, schildert einen langen Weg: "Das Geld ist nicht sofort bei uns. Ich muss einen Antrag schreiben, der gern vierzig oder fünfzig Seiten umfasst und genau erklären, wofür ich das Geld ausgeben werde." Die bayerische Staatsregierung zahlt 800.000 Euro, von denen sie neunzig Prozent abrufen darf. Würden sich andere Bundesländer anschließen, käme man viel schneller zum Ziel, sagt Hohberger.

Im Moment arbeite sie an der Projektskizze. Sie wird durch Behörden gehen, durch Besprechungen und am Ende durch einen Antrag, der wieder von Behörden geprüft werden wird. Frühestens im Dezember, wenn die Studie mit Long-Covid-Patienten abgschlossen ist, beginne diese Studie. Das heißt: Studienprotokoll erstellen und entscheiden, welche Patienten sich eignen. Die Studie beim Paul-Ehrlich-Institut anmelden, weil alle Studien mit nicht zugelassenen Medikamenten in der Bundesoberbehörde des Gesundheitsministeriums angemeldet werden müssen.

Dreißig Patienten werden eine Infusion mit dem Medikament bekommen, und nach drei und sechs Monaten werden sie erneut untersucht. Im Moment reiche das Geld nicht, um die Patienten stationär zu behandeln und nach zwölf Monaten noch einmal zu untersuchen, sagt Hohberger: "Manche Veränderungen sind klein, die lassen sich erst nach Monaten erkennen."

Das Medikament ist nach solchen Studien noch lange nicht bei den Patienten, die darauf warten. Dann kann das Pharmaunternehmen die Ergebnisse kaufen, kann in die nächste Phase der Studie gehen und irgendwann die Zulassung beantragen. "Das ist eine lange Zeit für einen Menschen, der sieht, wie sein Leben wegbröckelt", sagt Bettina Hohberger.

Christoph Bauer, 33.

Saskia Körner, 26.

Christian Scheibe, 22.

Sie können nur googeln, ob etwas passiert ist. Bei vielen Patienten kommt hinzu, dass ihre Diagnosen diffus sind. Es kommt hinzu, dass Ärzte oft keine Erklärung für ihren Zustand finden, weil sie noch nie von ME/CFS gehört haben.

Christian Scheibe lebt mit seinen Eltern auf einem Bauernhof in Wernsdorf in Mittelsachsen. Ein groß gewachsener 22-Jähriger, der jünger aussieht, als er ist. Er sitzt in der Frühlingssonne am Tisch vor dem Hühnerstall und streichelt ein Kätzchen. Beinahe sechs Jahre fehlen ihm, sagt er. Christian Scheibe war in einem Zentrum für seltene Erkrankungen, im Herzzentrum, in Reha-Kliniken. Acht Klinikaufenthalte und Rehabilitationsversuche. Es gebe nichts mehr, wohin die Ärzte ihn schieben können, sagt Christian Scheibe.

2019 habe seine Hausärztin zum ersten Mal von ME/CFS gesprochen. Seitdem ist er krankgeschrieben. Christian Scheibe war im letzten Jahr seiner Ausbildung zum Mechatroniker. Da steckt er jetzt immer noch fest. Er will sich nicht begutachten lassen für Erwerbsunfähigkeitsrente. Er will eine Perspektive haben: "Wenn du Rente beantragst, hältst du dir vor Augen, dass es nichts mehr wird."

Nach dem Frühstück legt er sich hin, drei Stunden. Nach dem Mittag legt er sich hin, zwei Stunden. Danach geht ein bisschen. Rasen mähen, den Weidezaun umstecken, kleine Reparaturen in der Werkstatt. Sogar die eine Kuh, die sie in Wernsdorf haben, mistet Christian Scheibe manchmal aus.

Christoph Bauer aus Mittweida hat heute seinen vierten Hochzeitstag. Er wird seine Frau heute nicht treffen, weil die Kraft nur für ein Gespräch reicht, weil er entscheidet, seine Geschichte an seinem Hochzeitstag der Journalistin zu erzählen. "Ich hatte wenigstens ein Leben vor ME/CFS", sagt Christoph Bauer. Achtzig Länder, ein Betriebswirtschaftsstudium, eine Stelle als Content-Manager in einer dänischen Firma, eine Ehe, ein Sohn.

In der Ferne knarrt ein Rasenmäher, während er auf dem Sofa liegt. Es kann nicht der Nachbar sein, es kommt von weiter weg. Er steckt sich Wachsstöpsel in die Ohren. Seine Mutter sagt, Geräusche und Licht machen alles schlimmer. Sein Vater sagt, Christoph würde lieber im Gefängnis sitzen, weil er dann wüsste, wie lange es geht. Er lebt in der Stille. Kein Fernsehen, keine Musik, keine Bücher. Eine Seite könne er an guten Tagen lesen. Jeden Morgen um sieben beginnen fünfzehn Stunden, die sich anfühlen wie Unendlichkeit.

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