Regionale Nachrichten und News mit der Pressekarte
Sie haben kein
gültiges Abo.
Regionale Nachrichten und News
Schließen
Die Deutschen nehmen die Justiz seltener in Anspruch als früher, die Zahl der Zivilklagen ist stark gesunken.
Die Deutschen nehmen die Justiz seltener in Anspruch als früher, die Zahl der Zivilklagen ist stark gesunken. Bild: David-Wolfgang Ebener/dpa
Wirtschaft

Prozesshansel werden seltener - Klageneigung stark gesunken

Es wird weniger geklagt in Deutschland. Entspannt zurücklehnen kann sich die Justiz dennoch nicht. Die mitunter schwierige Finanzierung von Zivilklagen hat ein Geschäftsmodell hervorgebracht.

München.

Die Streitlust der Deutschen vor Gericht hat in den vergangenen Jahren stark abgenommen. Von 2007 bis 2023 ist die Zahl der neu eingegangenen Zivilverfahren an den Gerichten nahezu stetig gesunken, wie aus Daten des Statistischen Bundesamts hervorgeht. An den Amtsgerichten beträgt der Rückgang fast 39 Prozent: Von gut 1,26 Millionen neu eingegangenen Verfahren im Jahr 2007 auf knapp 773.400 im Jahr 2023. 

Auch an den Landgerichten - die für die teureren Zivilprozesse ab einem Streitwert von 5.000 Euro zuständig sind - ist die Entwicklung mit einem Rückgang von knapp 19 Prozent ausgeprägt: von gut 373.300 Verfahrenseingängen 2007 auf knapp 301.000 im Jahr 2023. Die Ampel-Koalition wollte diese Streitwertgrenze auf 8000 Euro anheben, doch das Gesetz ist bislang nicht beschlossen worden. 

Alle Bundesländer, fast alle Sachgebiete

"Der Eingangsrückgang zieht sich durch alle Streitwertgruppen und betrifft alle Bundesländer", sagt eine Sprecherin des Bundesjustizministeriums. "Betroffen sind nahezu alle Sachgebiete." 

Besonders die Corona-Pandemie ging mit einem Klageknick einher, wie das Beispiel Bayerns zeigt: 2019 gingen an den weiß-blauen Amtsgerichten nach Zahlen des Münchner Justizministeriums noch fast 126.000 Verfahren ein. 2022 war dann der bisherige Tiefstand mit weniger als 102.000 Zivilsachen erreicht, bevor es 2023 wieder einen Anstieg gab. 

Prozesshansel adé?

Die Deutschen gelten als Prozesshansel, die sogar Meinungsverschiedenheiten um die Bäume in Nachbars Garten vor Gericht austragen. Doch offenkundig ist die Bevölkerung zumindest in dieser Hinsicht friedfertiger geworden. "Eine eindeutige Erklärung für den Rückgang der Verfahrenszahlen lässt sich nicht finden", sagt ein Sprecher des nordrhein-westfälischen Justizministeriums in Düsseldorf. Im bevölkerungsreichsten Bundesland gingen 2013 noch knapp 85.000 Zivilverfahren an den Landgerichten ein, 2023 waren es dann weniger als 70.000. 

Auch wenn es knapp 35 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch erhebliche Unterschiede zwischen West- und Ost-Ländern gibt, so ist die Klageneigung im Osten ebenfalls gesunken: So gingen an den Brandenburger Landgerichten 2013 insgesamt 8.285 Zivilverfahren ein, 2023 waren es noch 7.438, wie das Landesjustizministerium mitteilt.

Mehrere Gründe wahrscheinlich

In einem 2023 abgeschlossenen Forschungsprojekt des Bundesjustizministeriums nannten die Autoren mehrere mögliche Gründe, dazu zählen die hohen Kosten und die seelische Belastung, möglicherweise hat auch die Zahlungsbereitschaft von Rechtsschutzversicherungen abgenommen. Die Ampel-Koalition wollte den Bürgern den Gang vor Gericht erleichtern und plante die Erprobung von Online-Klagen, gedacht für niedrige Streitwerte. 

Doch die Massenverfahren nehmen zu

Entspannt zurücklehnen können sich Richterinnen und Richter dennoch nicht. Ursache sind die Massenverfahren, bei denen eine Vielzahl von Klägern gegen ein Unternehmen prozessiert. Bekanntestes Beispiel ist die Klagewelle gegen VW und andere Autohersteller im Abgasskandal. Am Landgericht München I sind allein im Zusammenhang mit der Wirecard-Affäre 8500 Zivilklagen gegen Ex-Vorstandschef Markus Braun, die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft EY und andere Beteiligte eingegangen. 

In der Regel handelt es sich um Schriftsätze von vielen hundert Seiten ähnlichen Inhalts. Im Wirecard-Komplex verschickten die beteiligten Anwaltskanzleien also mutmaßlich mehrere Millionen Blatt Papier an das Gericht, die alle gelesen werden müssen. Die Massenverfahren seien eine "erhebliche Belastung", sagt eine Sprecherin des bayerischen Justizministeriums.

Geschäftsmodell Zivilprozess für Kapitalanleger

Für Anwaltskanzleien sind die gesunkenen Verfahrenszahlen unerfreulich, vor allem weil die Zahl der zugelassenen Anwälte nach Daten der Bundesrechtsanwaltskammer seit 2013 im Saldo keineswegs im Gleichtakt gesunken ist. Die Folge ist verschärfte Konkurrenz. Dennoch hat eine Wachstumsbranche die Zivilklage in ein offenkundig profitables Geschäftsmodell verwandelt: die Prozessfinanzierer. 

Diese Unternehmen strecken sämtliche Auslagen vor, die klagenden Kunden haben keine Kosten. Wird die Klage gewonnen, kassiert der Finanzierer eine üppige Provision. Daher springen die Prozessfinanzierer in aller Regel auch nur auf Massenverfahren mit hohen Erfolgsaussichten auf. 

Einer der größten Prozessfinanzierer Europas ist das in Tschechien ansässige Unternehmen Litfin. Im Wirecard-Skandal vertritt Litfin nach Angaben von Partner Ondřej Tyleček 5.500 Kläger. Je nach Schadenshöhe verlangt Litfin für den Erfolgsfall annähernd 20 Prozent Provision. Der Jurist verwahrt sich gegen Kritik und verweist darauf, dass große Konzerne sehr viel tiefere Taschen haben als klagende Verbraucher: "Wenn man gegen Giganten wie Apple oder Google kämpft, also die typische Auseinandersetzung David gegen Goliath, dann braucht man einen starken Partner, und das ist der Prozessfinanzierer." 

Ökonomisch attraktiv und moralisch richtig?

Um den eigenen Geldbedarf zu decken, hat Litfin den Zivilprozess als Finanzinstrument für Investoren entdeckt: Im vergangenen Jahr legte das Unternehmen einen ersten Fonds für Anleger auf, um die Lkw-Kartellklagen vorzufinanzieren, weitere sollen folgen. Gedacht sind die Fonds für Kapitalanleger, "die Investitionen in Prozessfinanzierung ökonomisch attraktiv und moralisch richtig empfinden, weil das den Zugang zur Rechtsprechung erleichtert", sagt Tyleček. Unter Juristen sind die Meinungen geteilt. (dpa)

© Copyright dpa Deutsche Presse-Agentur GmbH
Das könnte Sie auch interessieren
12.02.2025
3 min.
Wirecard-Prozess wird abgekürzt
Der frühere Wirecard-Vorstandschef Markus Braun im Gerichtssaal. Die Staatsanwaltschaft hat einer Abkürzung des Verfahrens zugestimmt. (Foto: Archiv)
Seit über zwei Jahren steht der frühere Wirecard-Chef Braun vor Gericht, seit über viereinhalb Jahren sitzt er in Untersuchungshaft. Nun ist das Urteil ein wenig näher gerückt.
12:49 Uhr
2 min.
Auto fährt in München in Demo - Söder geht von Anschlag aus
Bei dem Vorfall wurden laut Feuerwehr mindestens 20 Menschen verletzt.
Nach der Fahrt eines Autos in eine Demonstration in München geht Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) von einem "mutmaßlichen Anschlag" aus. Bei dem Tatverdächtigen handelt es sich nach...
12:30 Uhr
3 min.
Sachsen sucht die Superknacker: Sieger-Wurst kommt aus dem Erzgebirge
Fleischermeister Robert Häußler mit seinen preisgekrönten Knackern. Seinen Familienbetrieb mit acht Mitarbeitern führt er in vierter Generation.
Auf der Fachmesse „Handwerk live“ in Leipzig wurde die beste Knackwurst Sachsens gekürt. Der Lößnitzer Fleischermeister Robert Häußler hat gewonnen. Nicht zum ersten Mal. Wie hat er das geschafft?
Mario Ulbrich
16:00 Uhr
4 min.
Testportal: Deutschlands beste Sauna steht in Glauchau
Inhaberin Swantje Hoppe und ihr Lebensgefährte Andreas Steinhart am Eingang ihrer Finnland-Sauna in Glauchau. Sie bekam bei testberichte.de die besten Bewertungen.
Beim deutschlandweiten Ranking im Internet holt sich die Finnland-Sauna im Glauchauer Carolapark den ersten Platz. Was die Betreiberin dazu sagt.
Stefan Stolp
12:48 Uhr
4 min.
Prozess um tödlichen Messerangriff in Mannheim hat begonnen
Der Angeklagte wurde in Handfesseln in den Saal geführt.
Es ist ein blutiger Fall, der per Kamera dokumentiert wurde und die ganze Republik erschütterte: die Messerattacke von Mannheim. Aber dem Verfahren, so der Richter, sind Grenzen gesetzt.
12.02.2025
5 min.
Enorme Sicherheitsbedenken gegen chinesische KI DeepSeek
Die Vorstellung der chinesischen KI DeepSeek Ende Januar schockierte die etablierte US-Konkurrenz und löste ein Börsenbeben aus. Cybersicherheitsfachleute halten die Anwendung für bedenklich, die italienische Datenschutzbehörde hat DeepSeek auf den Index gesetzt. (Foto: Illustration)
Die chinesische KI DeepSeek zählt zu den populären Anwendungen in den App Stores von Apple und Google. Sicherheitsbehörden, Datenschützer und Cyberfachleute sehen erhebliche Risiken.
Carsten Hoefer, dpa
Mehr Artikel