Dank eines Visionärs blieb Lanzarote das Schicksal anderer Kanareninseln weitgehend erspart. Die lebensfeindliche Landschaft lehrt den Respekt vor der Natur und steckt doch voller Wunder.
Lanzarote ist anders. Das zeigt sich schon beim Landeanflug. Keine Betonburgen, die sich in die Landschaft fressen. Nur vereinzelt weiße Kleckse von Zivilisation und dazwischen ganz viel Raum. Raum für Stille. Raum, um Natur zu entdecken. „Lanzarote ist der Underdog der Kanaren“, sagt Barbara Heidemann. Vor dreieinhalb Jahren ist sie auf die Insel ausgewandert. „Ursprünglich bin ich nur zum Surfen hergekommen“, sagt sie. „Denn die Bucht von Famara bietet mit ihren kräftigen Passatwinden ideale Bedingungen.“ Doch dann habe sie sich in die raue Schönheit der Insel verliebt. Weg von der Hektik des deutschen Alltags, vom Lärm der Städte, rein in eine Landschaft, in der sie Frieden finde.
Etwa drei Viertel von Lanzarote sind mit Lava bedeckt - ausgespien aus mindestens 300 Kratern von etwa 100 Vulkanen. Der letzte Ausbruch liegt mehr als 200 Jahre zurück. Auf den ersten Blick eine öde Mondlandschaft, die Touristen vor allem wegen der selbst im Winter milden Temperaturen und der extrem seltenen Niederschläge anzieht. Doch wer sich einlässt auf die Insel, wird ihren Reichtum entdecken.
Am besten gelingt das auf einer Wanderung durch die bizarre Kraterlandschaft, die zum größten Teil streng geschützt ist. Warum, das erklärt Sandra Rodriguez bei einer Führung durch den Naturpark Los Volcanes. „Sehen Sie hier, der graue Schleier auf der erstarrten Lava? Das sind Flechten, die die Steinbrocken zersetzen und damit die Grundlage für neue Pflanzen schaffen“, sagt sie. „Für einen Millimeter brauchen sie etwa 80 Jahre.“ Insofern sei der Schaden immens, wenn Touristen achtlos für ein Selfie auf die Lavasteine klettern.


Sandra ist auf Lanzarote geboren und öffnet Besuchern die Augen für die Wunder ihrer Insel: Die unterschiedlichen Farben der Erdkegel, die nicht nur grau und schwarz, sondern in Ocker, Rost oder Karamell daherkommen und damit Rückschlüsse auf ihr Alter zulassen. „Dieser Vulkan ist vor Millionen Jahren entstanden, der dort drüben noch ein Baby“, sagt sie. Wie versehentlich dahin geraten reckt sich eine Palme am Berg. Sie sei von Vorfahren gepflanzt worden - als Sonnenuhr. Ein grüner Schimmer im vulkanischen Gestein entpuppt sich als Olivin - ein Mineral, das für Schmuck verarbeitet wird. Am beeindruckendsten aber ist die Ruhe, die über den erloschenen Kratern hängt. Sandra legt sich auf den Boden, breitet die Arme aus und versinkt im Nichts. Kein Autogeräusch, keine Stimmen, nicht mal ein Vogelzwitschern.
Die Magie Lanzarotes hat auch ihren berühmtesten Inselbewohner inspiriert: César Manrique. Obwohl 1992 verstorben, begegnet der Künstler einem auf Schritt und Tritt. Denn Manriques Kampf ist es zu verdanken, dass Lanzarote das Schicksal seiner Nachbarinseln weitgehend erspart geblieben ist: Massenunterkünfte von vulgärer Architektur, wie er es nannte, die den Blick aufs Meer blockieren. Der Ausverkauf der Insel an Immobilien-Spekulanten, die die Natur zersiedeln und zerstören, um Geld zu machen. Die Touristenzentren konzentrieren sich heute auf nur drei Orte: Costa Teguise, Playa Blanca und Puerta del Carmen. Manrique war es, der den Grundstein für das Erscheinungsbild der Insel gelegt hat. Die Häuser strahlen einheitlich weiß in der Sonne. In den wenigen Dörfern sind sie nicht höher als zwei Stockwerke, in den Urlaubsregionen ist bei maximal sechs Etagen Schluss. An der einzigen Autobahn gibt es keine knallige Werbung für die Auswüchse der Konsumgesellschaft. Alles wirkt gepflegt und sauber. Nirgends liegt Müll. Der Respekt vor der Umwelt hat Lanzarote den Unesco-Titel Biosphärenreservat eingebracht.


Wer des Meisters Kunstwerke bewundern will, beginnt am besten in Tahíche. Manrique hat hier in seinem ehemaligen Wohnhaus eindrucksvoll gezeigt, wie sich Natur, Architektur und Kunst in Harmonie vereinen können. Das extravagante Domizil befindet sich inmitten eines dramatischen Lavafelds. In vulkanischen Gasblasen hat er Wohnräume mit Vergnügungsbereichen und Pool untergebracht, in denen die Vegetation Kulisse sein darf. Es müssen ausschweifende Partys gewesen sein, die hier stattfanden, wie historische Fotos belegen. Heute ist das Haus eine private Kulturstiftung.


„Als Manrique 1966 als gefeierter Architekt und Maler aus New York zurückkam, hat er sich zur Lebensaufgabe gemacht, auf seiner Insel besondere Orte in Einklang mit Tradition und Umwelt zu schaffen“, sagt Barbara Heidemann, die als Touristenführerin arbeitet. Ein solcher Ort ist zum Beispiel Jameos del Agua. Manrique hat hier einen 3.000 Jahre alten, zugemüllten Lavatunnel in eine Fantasiewelt mit magischer Wirkung verwandelt. Wer hinunter steigt in eine Grotte, trifft auf einen Salzsee, aus dem kleine weiße Punkte leuchten: Albinokrebse, die in der Tiefsee leben und vermutlich durch eine Eruption hierher nach oben gedrückt wurden. Begleitet von sphärischer Musik, lässt sich unter der Erde vortrefflich speisen oder einfach nur an der Bar sitzen. Die größte Überraschung aber ist eine Höhle, die heute als Konzertsaal dient - mit erstaunlich guter Akustik. Auch wenn gerade keine Veranstaltung stattfindet, können Besucher hier verweilen und entspannter Musik vom Band lauschen.


Auch an vielen anderen Stellen der Insel hat Manrique seiner Kreativität freien Lauf gelassen und die Natur zur Kunst erhoben. Heute sind sie allesamt Touristenattraktionen. Ein üppiger Kaktusgarten in einem Amphitheater, in dem mehr als 1.400 Arten gedeihen. Oder der Mirador del Rio an der nördlichen Inselspitze - ein Aussichtspunkt, der sich wie ein Adlerhorst an einen Steilhang klammert. Von hier aus bietet sich ein atemberaubender Blick auf die kleine Nachbarinsel La Graciosa, auf der nur 730 Einwohner leben. Die Cafeteria des Mirador kommt ohne rechte Winkel aus. Ein Markenzeichen von Manrique. „Er liebte Rundungen“, sagt Heidemann.
Manriques Anspruch, seine von Natur aus lebensfeindliche Insel in einen der schönsten Plätze der Welt zu verwandeln, ist nicht ohne Folgen geblieben. Das, was er einst bekämpft hat, den Massentourismus, wird durch seine Landschaftskunst geradezu angezogen. Bei nur 160.000 Einwohnern zählte die Atlantik-Insel im vergangenen Jahr 3,3 Millionen Besucher. „Mehr als vor Corona und mehr, als der Insel guttut“, sagt Marcos Medima vom Fremdenverkehrsamt. Zwischen November und April schütten zudem etwa 100 Kreuzfahrtschiffe Tausende Tagesgäste aus. Wie auf Mallorca gab es auch auf Lanzarote Demonstrationen gegen überbordenden Tourismus. „Problem ist, dass wir zwar europäische Preise, aber afrikanische Gehälter haben“, sagt Tanausú Rodríguez Seijas, der auf der Insel aufgewachsen ist und im Tourismus arbeitet. Zwar wolle die Regierung den Bau neuer Hotels begrenzen. Doch weil immer mehr Wohnungen in Ferienunterkünfte umgewandelt würden, seien die Mieten so gestiegen, dass sie für Einheimische oft unerschwinglich wären.


Und so bilden sich vor dem Hotspot Lanzarotes, dem Nationalpark Timanfaya, oft lange Autoschlangen. Wer schlau ist, plant einen Besuch erst am Nachmittag. Der 51 Quadratkilometer große Park ist ein gewaltiges Lavameer mit unheimlichen Kraterlöchern, spitz aufgetürmtem Gestein und riesigen Aschefeldern, die dem Menschen wieder Respekt vor der Natur lehren. Die Besucher müssen kurz hinter dem Eingang in einen Bus umsteigen, der über Serpentinen durch das streng geschützte Gebiet fährt. Auch auf Deutsch wird dabei die düstere Geschichte dieses Fleckchens Erde erzählt: Mit einem großen Knall soll sich in den Abendstunden des 1. September 1730 die Erde geöffnet und todbringende Lavaströme ausgespuckt haben - immer wieder, sechs Jahre lang. Dörfer und fruchtbare Erde wurden in Niemandsland verwandelt. „Noch heute ist es wenige Meter unter der Erde heiß“, sagt Barbara Heidemann. Wie heiß, das kann man vor dem ebenfalls von César Manrique entworfenen Besucherzentrum sehen. Ein Parkmitarbeiter hält dort einen Stock mit Gras in ein zwei Meter tiefes Loch. Kurz darauf lodern Flammen heraus. Eindrucksvoll ist auch das Experiment mit Rohr, das zehn Meter in die Tiefe reicht. Wird kaltes Wasser hineingeschüttet, schießt mit gewaltigem Druck eine meterhohe Dampfsäule empor. Allein mittels unterirdischer Hitze lassen sich auf einem Riesengrill Würstchen grillen.


Nach dem Besuch des Parks, dessen Maskottchen der Teufel aus der Hölle ist, erscheint es fast wie ein Wunder, dass sich auf der Insel Menschen zurück ins Leben gekämpft haben. Es gibt bis heute fast keine Bäume, keine fruchtbaren Böden, auf denen Essbares wächst. Trinkwasser ist rar und muss durch Entsalzung gewonnen werden. Doch eines zumindest gedeiht erstaunlich gut: der Wein. Denn die Einheimischen haben den Anbau den unwirtlichen Bedingungen angepasst. Jede einzelne Pflanze steht in einer trichterförmigen Grube, die mit Steinen umringt vom Wind geschützt wird. Wie kleine schwarze Strandburgen sieht das aus, die sich geordnet über die Hänge verteilen. Poröses Lavagranulat hält die Feuchtigkeit im Boden, die sich in kühlen Nächten in Form von Kondenswasser bildet. Die Weine, meist trockene Weißweine der Malvasía-Rebe, können in den Bodegas verkostet werden, die sich vor allem um La Geria herum befinden.
Lanzarote ist anders. Ein großes Freiluftmuseum für Vulkanismus. Ein Ort, der auf den zweiten Blick fasziniert. Schade für diejenigen, die hierher nur zum Alles-Inklusive-Sonnen kommen.




- Anreise: ca. 3.000 km in 4-5 h mit dem Flugzeug.
- Einreise: Personalausweis oder Pass. Für Kinder unter 16 Jahren Kinderausweis bzw. Reisepass mit Foto.
- Reisezeit: ganzjährig
- Klima: konstant milde Temperaturen, auch im Winter kaum unter 20 Grad, kaum Niederschläge, Wassertemperaturen zwischen 17 Grad im Frühjahr und 22 Grad im September/Oktober.
- Uhrzeit: eine Stunde früher als hier.
- Infos über die Insel: www.turismolanzarote.com
- Die Recherche wurde unterstützt vom Spanischen Fremdenverkehrsamt und vom Lanzarote Tourist Board