Der erfolgreichste deutsche Skispringer wird 60 Jahre alt. Was ihn früher zu Erfolgen trieb, hat Jens Weißflog in die Zeit nach dem Sport übertragen. Und damit fährt er sehr gut.
Die Deckenbeleuchtung wirft einen matten Lichtschein in den Abstellraum. Im hintersten Regal, versteckt hinter Putzutensilien und Ordnern voller Hotelbürokratie, glitzert und blinkt es. Zig Pokale reihen sich scheinbar lieblos und vergessen neben uralten Skisprunglatten und Sturzhelmen aneinander. Doch ihr tristes Dasein hat schon bald ein Ende. Denn am Sonntag öffnet Jens Weißflog im eigenen Hotel ein Museum, das an seine großen Erfolge als Sportler erinnert. Dann werden die Trophäen in einem hell erleuchteten Wandelgang in Vitrinen blankgeputzt und angestrahlt funkeln und von der einzigartigen Karriere des erfolgreichsten deutschen Skispringers erzählen.
Neue Ausstellung erinnert an seine Erfolge
Das Datum 21. Juli ist nicht zufällig gewählt. An diesem Tag feiert Weißflog seinen 60. Geburtstag. Und erinnert mit der Ausstellung auch an den 40. und 30. Jahrestag seiner drei Olympiasiege. Champion war er 1984 als 19-Jähriger für die DDR bei den Spielen in Sarajevo im Parallelstil, und 1994 als 29-Jähriger noch einmal für die Bundesrepublik im Einzel und mit der Mannschaft bei den Spielen in Lillehammer, diesmal im V-Stil. Was Weißflog geschafft hat, bleibt in der Welt der menschlichen Adler einmalig. Das MDR-Fernsehen berichtet am Sonntag ab 18.05 Uhr live in einer Sondersendung von der Museumseröffnung.
Weißflog kann mit dem Rummel um seine Person gut umgehen. Längst ist der erfolgreiche Geschäftsmann ein Medienprofi. Nichts erinnert mehr an den schüchternen Jungen, der in Sarajevo dem schier unschlagbaren Matti Nykänen aus Finnland Paroli bot. Oder an den von Glückshormonen überwältigten jungen Mann, der seiner damaligen Lebensgefährtin Nicola noch im Schanzenauslauf von Lillehammer einen Heiratsantrag machte. Der „Floh vom Fichtelberg“, wie er ob seiner Körpergröße und seines Gewichts oft betitelt wurde, ist durch Sport und Beruf gestählt.
Für Fußball zu klein und zu dünn
Und doch gibt es in seinen Erinnerungen emotionale Momente, die ihm bis heute die Tränen in die Augen schießen lassen. „Als ich 1984 spätabends mit meinem Teamkollegen Holger Freitag endlich auf dem Zimmer war und ich so langsam realisierte, dass ich Olympiasieger bin, sagte Holger: Wir haben 1981 als Junioren zu fünft angefangen, nach den Sternen zu greifen. Jetzt sind wir noch zwei. Und du hast es als Einziger geschafft“, erzählt Weißflog mit stockender Stimme. Eine Aussage von Freitag, die einen jahrelangen Prozess voller Entbehrungen, voller Kampf und Freude zusammenfasste, die ein junger Sportler durchwandern musste – ohne Garantie, dass er es bis nach oben schafft.
Skispringen war so ziemlich das Einzige, was dem kleinen Jens als sportliche Betätigung einst blieb. „Außer Fußball gab es nichts in unserem Ort. Und dafür war ich viel zu klein und zu dünn“, berichtet er. Blieb also nur der Wintersport, und da in erster Linie die Nordische Kombination. „Doch zum Laufen war ich zu faul. Trotzdem musste ich immer in Bewegung sein, heute würde man bestimmt ADHS bei mir diagnostizieren.“ Mut hatte Weißflog. Die Jungs hatten sich im Winter kleine Schanzen gebaut und versuchten, ihre Bestweiten mit jedem Versuch zu überbieten. „Ich denke, es hat mit einem Meter angefangen“, sagt der Oberwiesenthaler im Rückblick. Zu der Zeit unvorstellbar, dass es für ihn einmal bis auf 201 Meter gehen sollte.
Statt eines Wartburgs nur ein Trabi
Er blieb dabei, entwickelte sich prächtig, kam zur Kinder- und Jugendsportschule nach Oberwiesenthal und hatte fortan das eine Ziel: „Ich will Olympiasieger werden.“ Schuld daran hatte das Oberwiesenthaler Idol Ulrich Wehling, der dreimal Olympiasieger in der Kombination wurde. „Der kam mit einem neuen Wartburg auf das Clubgelände gerauscht. So ein Auto wollte ich auch“, sagt Weißflog. Olympiasieger wurde er mit 19, einen Wartburg gab es nicht. „Mein Auto war ein Trabant, den ich mir vom Geld für den Olympiasieg kaufen konnte.“
Die Karriere hatte bereits vorher Fahrt aufgenommen, im Olympiawinter gewann er erstmals die Vierschanzentournee. In den Folgejahren gab es insgesamt dreimal WM-Gold, dazu acht weitere Medaillen. Er holte den Gesamtweltcup und sicherte sich viermal den Sieg bei der Tournee. Ein einziger Erfolg blieb ihm verwehrt: Weißflog wurde nie Skiflugweltmeister, musste sich da mit Silber und Bronze begnügen.
Im Flugzeug in der letzten Reihe
Doch wo viel Licht ist, da ist zumeist auch Schatten. Olympia 1988 in Calgary gehörte dazu. Als Mitfavorit angereist, ging für den Sachsen gar nichts. Zur Strafe musste er im Olympiaflieger auf der Rückreise auf Anweisung des DDR-Sportbosses Manfred Ewald in der letzten Reihe sitzen. Auch die Ski-WM 1993 in Falun gehörte zu den Negativerlebnissen. Danach wurden die deutschen Springer als fliegende Suppenhühner betitelt. Grund war der neue V-Stil, dessen Siegeszug man im Deutschen Skiverband viel zu spät ernstgenommen hatte. „Überholen ohne einzuholen“, nennt Weißflog das heute. „1991 habe ich noch Springen im Parallelstil gewonnen, in der nächsten Saison siegten nur noch V-Stil-Springer, die mir vorher nie gefährlich waren“, beschreibt es der Oberwiesenthaler.
Dass er es dennoch wieder auf den olympischen Thron schaffte und auch noch einmal die Tournee gewann, ist der Psychologie zu verdanken. „Im Kopf passieren unbewusst Dinge, die man nicht erklären kann. Erst wenn man sich deren bewusst wird, sich damit wirklich auseinandersetzt, kann man etwas zum positiven ändern“, sagt Weißflog. So holte er sich neuen Mut nach schlimmen Stürzen, so freundete er sich auch mit der neuen Technik und der komplett neuen Ausrüstung an.
Tochter Greta in des Vaters Fußstapfen
Mittlerweile ist Skispringen nur noch ein Nebenaspekt in seinem Leben. Immerhin lebt der Sport in der Familie weiter. Weißflogs 13-jährige Tochter Greta, die er mit seiner zweiten Frau Doreen hat, wandelt auf den Spuren des Vaters, erlernt das Springen auf den Schanzen in Oberwiesenthal – so wie ihr Vorbild. Das zeigt nicht ohne Stolz Videos von gelungenen Sprüngen und erklärt, dass die Tochter ihn schon um Rat fragt. Als Belastung empfinde sie den großen Namen nicht. Kurios: Gretas Trainer ist Peter Grundig, der Mann, der nach 1994 bis zum Karriereende 1996 auch Weißflogs Coach war, damals gerade frisch mit dem Sportlehrerdiplom in der Tasche.
Ein Chef zum Anfassen
Zeit fürs Sporttreiben findet Weißflog kaum noch. „Ich müsste, aber“, sagt der Hotelier, der mit seinem vom Leistungssport übrig gebliebenen Ehrgeiz viel erreicht hat. Sein Haus, in das er sehr viel Ideen, handwerkliches Geschick und Kraft steckt, über dessen Finanzen er genauso brütet und wacht wie einst über Trainingsplänen, läuft, seit es im 4-Sterne-Bereich angekommen ist, gut. Dazu brauchte es Weitblick und Überzeugungsarbeit bei seinen Mitgesellschaftern. Weißflogs Beharrlichkeit zahlte sich aus, auch die Coronapandemie überstand er weitgehend unbeschadet. Für die Gäste seines Hauses ist er ein Chef zum Anfassen. Ein Autogramm zwischen Tür und Angel hier, ein Gruppenfoto vor dem Reisebus da, Kamin- und Kaffeetratsches dort – Weißflog weiß sein Haus zu vermarkten. Das neue Museum wird weitere Interessenten anziehen. (dpa)
