Berlin. Der Altweibersommer vor zwanzig Jahren war von bleierner Schwere. Die Innenstadtviertel von Ostberlin schienen nur noch menschenleere Hüllen zu sein. Viele Ungarnurlauber waren nicht zurückgekehrt, ihre Wohnungen verstaubten. Private Gaststätten und Läden hatten ihre sommerliche Ruhezeit ins Unendliche verlängert. Jeder, der da geblieben war, wusste, dass es so nicht weitergehen konnte, aber niemand vermochte vorherzusagen, was kommen würde. Wir hatten die zynischen Kommentare der SED-Politbüromitglieder zum Massaker auf dem Pekinger Tiananmen-Platz noch im Ohr.Auch ich hielt es nicht aus in dem Land, das an sich selbst zu ersticken drohte. Am 6. Oktober 1989 flog ich nach Budapest. Mit Rückflugticket, denn ich ließ meinen neun Monate alten Sohn zurück. Ich wollte eine Schweizer Freundin treffen, die Einreiseverbot in die DDR hatte. Den Westen sah ich nach wie vor nicht als Alternative für mich.Auf dem Rückflug nach Berlin-Schönefeld waren fast alle Plätze in der Maschine leer. Mit mir flogen nur eine indische Familie und zwei Männer zurück, denen man wohl ansehen sollte, dass sie von der Staatssicherheit waren. Ich fühlte mich unwohl. Ich wusste nicht, in welches Land ich zurückkommen würde. Die westdeutschen Zeitungen, die man in Budapest zu lesen bekam, hatten von Verhaftungen berichtet und von Schneepflügen, die gegen Demonstranten in Dresden eingesetzt worden waren.Auf dem Flughafen Schönefeld war nur noch die Notbeleuchtung an und zuhause erwartete mich niemand. Meine Freunde, die am 7. Oktober an der Gethsemanekirche protestiert hatten, kehrten erst nach und nach aus der Untersuchungshaft zurück. Nach dem 9. Oktober änderte sich alles, und es begann ein Jahr, das ich als beglückend in Erinnerung habe. Die wunderbare Zeit der Anarchie endete am 3. Oktober 1990. Die Mehrheit der DDR-Bürger hatte sich für Begrüßungsgeld und Beitritt zur Bundesrepublik entschieden.Das ist lange her. Mein Sohn ist erwachsen. Für ihn ist die DDR nicht mehr als ein Siegel auf seiner Geburtsurkunde. Je mehr Zeit vergeht und je komplizierter die Gegenwart wird, desto mehr gerinnt die DDR zur Anekdote in Schwarz- Weiß: Für die einen ist sie das böse Gespenst, das an der Ecke wartet und aufrechten Demokraten auflauert, für andere wird sie mehr und mehr zum Paradies, in dem es für jeden Milch und Honig gab. Dass soziale Sicherheit und Staatssicherheit zwei Seiten einer Medaille waren, wird gern übersehen.Manchmal vergesse ich, wo ich hergekommen bin, manchmal werde ich auf unschöne Art daran erinnert. Unschön dann, wenn die Bundesrepublik Züge der DDR bekommt. Wenn im Namen der Sicherheit die Freiheit nichts mehr wert ist und ich Sätze höre wie: Wer nichts zu verbergen hat, hat auch nichts zu befürchten, wenn der Krieg in Afghanistan nicht Krieg genannt werden darf, wenn angesichts der immer stärker werdenden sozialen Ungleichheit der Satz des Publizisten Valeriu Marcu aus dem Exil auf traurige Weise Wirklichkeit wird, dass nämlich die Armut das sicherste, gitterlose Gefängnis ist.Was bleibt, ist die Erfahrung. Die der Beschränkung und die der Selbstbefreiung. Was wir, die wir dabei gewesen sind vor 20 Jahren, mitgenommen haben, ist die Gewissheit: Alles ist endlich, auch das, was man für unerschütterbar hält. Beton ist nicht dicht und ein Staatsgebilde, das auf Lüge gebaut ist, nicht von Dauer. Von einem zum anderen Tag kann sich alles verändern und etwas Neues anfangen. Ob es uns gefällt oder nicht, wir werden ein Teil davon sein.Von Annett GröschnerZur Person:Annett Gröschner wurde 1964 in Magdeburg geborgen und lebt seit 1983 in Berlin. Die studierte Germanistin ist Journalistin und Schriftstellerin. Nach der Wende gründete sie die Frauenzeitschrift "Ypsilon" mit, schrieb unter anderem für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" und die "taz". Zuletzt sind 2008 in der Edition Nautilus ihre Berliner Geschichten unter dem Titel "Parzelle Paradies" erschienen (16 Euro, ISBN-10: 3894015756).Bisher erschienene BeiträgeWendegeschichte 11 von Jana HenselWendegeschichte 9 von Martin BeckerWendegeschichte 7 von Hans-Joachim MaazWendegeschichte 6 von Freya KlierWendegeschichte 5 von Josef HaslingerWendegeschichte 4 von Joachim WaltherWendegeschichte 3 von Christiane NeudeckerWendegeschichte 2 von Clemens MeyerWendegeschichte 1 von Kerstin HenselDer Auftakt-Beitrag zur Serie