Leipzig. Als ich das letzte Mal mein Elternhaus im Sauerland besuchte, entdeckte ich Nachrichten aus einer anderen Zeit. Schriftstücke aus dem Jahr 1989, vergessen zwischen Kindergartenmappen, Einschulungsfotos und Versandhausrechnungen. Persönliche Briefe von Freunden meiner Eltern, geschrieben in der DDR, adressiert an die westdeutsche Provinz. Wie ein Archäologe setzte ich mich auf den alten Wohnzimmerteppich und strich mit den Fingern über die schön geprägten Umschläge, auf denen sich eine stilisierte Abbildung der "1. deutschen Ferneisenbahn Leipzig-Dresden" befindet. Tatsächlich: Obwohl ich im Haus meiner Eltern war, bekam ich Heimweh. Um mich abzulenken, las ich, was die Brandenburger Freunde meinen Eltern im September 1989 zu erzählen hatten "Diese Woche haben wir endlich einen Farbfernseher bekommen. Er hat 6903 Mark und 10 Pfennige gekostet. Ja, wenn wir uns was Schönes leisten wollen, müssen wir mächtig bluten, so ist das eben". Ich las noch mehr: Schöne Wolle für einen versprochenen Pullover war auch nicht zu kriegen, dafür wünschte sich die Briefeschreiberin Metallicgarn zum Zustricken, "wenn möglich 2 Rollen a 1000 Meter." Im Gegenzug versprach sie, noch einige Bausätze für meinen Bruder zu besorgen, von dessen Zimmerdecke damals unzählige Modellflieger aus Ost und West einträchtig vereint baumelten. 1989 war ich sechs Jahre alt. Ein glücklicher Junge inmitten grüner Berge. Mein Vater arbeitete hart in der Schmiede einer Autofabrik, meine Mutter war Schneiderin und änderte Kleidung für korpulente Frauen, die sich bei ihren Bestellungen bei Otto oder Quelle in der Größe verschätzt hatten. Ich träumte von Disneyland, einem eigenen Hund und Urlaub in Australien. Daraus wurde: Ein Besuch im Sauerländischen Freizeitpark, ein blauer Wellensittich und eine Reise in die DDR. Meine erste Auslandsreise. Erinnerungsfragmente sind davon übrig. Mein ununterbrochenes Staunen: Über die billigen Brötchen in der Bäckerei, über die langen Schlangen vor den Läden, über die streng dreinblickenden Uniformierten, in deren Gegenwart mein inoffizieller DDR-Onkel in der Kneipe nur leise mit uns sprach. Für mich war das alles ein Abenteuer. Besonders, als ich auf dem Rückweg an der Grenze im Auto unbedingt die Klappe halten sollte: Ich sammelte damals Geldscheine aus aller Welt (der tiefblaue Singapur-Dollar ist für mich heute noch eine Sensation), und hatte polnische Zloty, tschechoslowakische Kronen und jede Menge DDR-Scheine versteckt, die unsere Freunde mir geschenkt hatten. Im Herbst desselben Jahres lag ich im Bett und konnte nicht einschlafen: Es war die Nacht des Mauerfalls. Und obwohl ich von Disneyland träumte und Geldscheine sammelte, wusste ich: Da passiert gerade was Wichtiges.Da war für den Bruchteil einer Sekunde ein unerklärliches Glücksgefühl. Viele Jahre sind seitdem vergangen: Mein Vater ist letztes Jahr gestorben. Die Modellflugzeuge meines Bruders gibt es schon lange nicht mehr, der Kontakt zu den alten Brandenburger Freunden ist abgerissen, und die Geldscheinsammlung liegt irgendwo in einer Reihenhausecke und wartet auf das letzte, große Aufräumen. Das diffuse Glücksgefühl aber gibt es noch: 2003 stieg ich zum ersten Mal in den Intercity von Hagen nach Leipzig, Direktverbindung vom Sauerland nach Sachsen. Ich fuhr zur Aufnahmeprüfung am Leipziger Literaturinstitut. Ohne die Friedliche Revolution wären die Straßen von Leipzig nicht meine Heimat geworden, nach der ich mich schon unendlich sehne, wenn ich auch nur einen einzigen Tag in meinem Sauerländer Elternhaus verbracht habe.Von Martin Becker Bisher erschienene BeiträgeWendegeschichte 11 von Jana HenselWendegeschichte 10 von Angela KraußWendegeschichte 8 von Annett GröschnerWendegeschichte 7 von Hans-Joachim MaazWendegeschichte 6 von Freya KlierWendegeschichte 5 von Josef HaslingerWendegeschichte 4 von Joachim WaltherWendegeschichte 3 von Christiane NeudeckerWendegeschichte 2 von Clemens MeyerWendegeschichte 1 von Kerstin HenselDer Auftakt-Beitrag zur Serie