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Hautnah bei historischem Elfmeter dabei: Erik Kiwitter beim Pokalfinale Zwickau - Dresden 1975

Man kann nicht bei jedem Wunder live dabei sein. Aber als Zwickau 1975 in Berlin im Fußball-Pokalfinale Dynamo Dresden schlägt, da ist die "Freie Presse" natürlich vor Ort. Solche Tage sind auch ein Fest für die Zeitung.

Zwickau.

Jürgen Croy legt das Leder auf den Elfmeterpunkt, ganz akkurat, den Mund vor Anspannung halb geöffnet, und 0,4 Sekunden nach dem Schuss wird klar sein, ob er den Torwart von Dynamo Dresden bezwungen hat oder nicht. Denn genau so lange braucht der Ball vom weißen Punkt bis zur Tormitte. Landet er an einem der Enden, sind es 0,42 Sekunden, bis man weiß, ob der Torwart überwunden ist. Oft ist diese Prozedur spannender als ein Krimi im Ersten. Es gibt Leute, die müssen wegsehen, weil sie den Nervenkitzel nicht ertragen.

Mit großer Wahrscheinlichkeit war das auch an jenem 14. Juni des Jahres 1975 so. Jürgen Croy ist eigentlich selber Tormann. Aber an diesem Tag schnappt sich der Zwickauer beim entscheidenden Elfmeterschießen im Pokalfinale gegen Dynamo Dresden die Kugel, nimmt einen langen Anlauf und stößt den Ball mit dem Innenrist halbhoch auf die von ihm ausgesehen rechte Seite des Tores. Claus Boden im Kasten der Dresdener riecht den Braten und segelt in die richtige Richtung. Aber der Schuss ist zu platziert - Wissenschaftler der Universität Erlangen-Nürnberg haben einmal ausgerechnet, dass der Tormann in der Geschwindigkeit eines 100-Meter-Läufers in die richtige Ecke fliegen müsste, um den Ball noch zu erreichen. Es sei denn, er springt zu spät ab, da hat er keine Chance.

Wie in diesem Fall. Das war die Entscheidung in dem großen Pokalfinale David gegen Goliath oder Sachsenring gegen Dynamo. Unter den 50.000 Zuschauern im Stadion der Weltjugend in Berlin befanden sich natürlich auch erwartungsfrohe Reporter aus der Sportredaktion der "Freien Presse". Man muss wissen, dass zu dieser Zeit die drei Oberliga-Mannschaften aus dem Bezirk-Karl-Marx-Stadt - neben Zwickau waren das der FCK und Wismut Aue - keine überragende Rolle spielten. Sie dümpelten in der Meisterschaft eher im Mittelfeld oder sogar noch weiter hinten herum, nicht selten die rote Laterne im Blick. So war schon die Qualifikation für das Endspiel in Berlin ein großer Erfolg - und auch für die Reporter der Regionalzeitung ein absoluter Höhepunkt. Die letzten großen Ereignisse mit Beteiligung einheimischer Fußballmannschaften, über die es zu berichten gab, lagen schon acht Jahre zurück. 1967 war der FC Karl-Marx-Stadt Meister geworden und Zwickau Pokalsieger. Seither: meistens triste Oberligakost. So war es natürlich überhaupt keine Frage, ob die "Freie Presse" mit einer kleinen Mannschaft von Reportern bei dem Wunder im Stadion der Weltjugend in Berlin live mit dabei sein würde oder nicht.

Natürlich ahnte am Morgen dieses Samstags noch keiner etwas von dem überraschenden Spielausgang. Die Zwickauer Spieler rollten im Mannschaftsbus nach Berlin, die Funktionäre saßen in einem Barkas, am Steuer Sektionsleiter Brettschneider höchstpersönlich. Auch Fotograf Frank Kruczynski aus Zwickau, der sich mit vielen spektakulären Aufnahmen zu diesem Zeitpunkt längst einen Namen in der Republik gemacht hat, durfte mit in dem kleinen Transporter Platz nehmen. "Wenn man bei einem Pokalfinale dabei ist, dann ist das immer ein großer Tag", erinnert er sich heute. Aber auch er konnte während der Fahrt ins Stadion noch nicht wissen, dass er am Nachmittag historische Fotos schießen wird. Zwei davon landen am Montag darauf in der "Freien Presse", eins auf der Titelseite, eins im Sportteil.

Soweit ist es allerdings noch lange nicht. Dresden bestimmt zunächst das Spiel und geht sogar zwei Mal in Front. Zwickau indes lässt sich nicht abschütteln. Nach der Verlängerung und damit 120 Spielminuten steht es 2:2, das Elfmeterschießen muss die endgültige Entscheidung bringen. Jetzt ist alles möglich, gelingt dem Außenseiter die große Überraschung? Die 50.000 Zuschauer blicken gebannt auf das Spielfeld. "Dramatik, die nicht mehr zu überbieten ist", sagt der Rundfunkreporter kurz vor dem Elfmeterschießen.

Aber erst einmal ein Sprung in das Jahr 2021. Jürgen Croy stattet im Mai der Lokalredaktion in Zwickau einen kurzen Besuch ab, bevor er auf den Golfplatz geht, wo er seit Jahren viel Freizeit verbringt. Der ehemalige DDR-Nationaltorwart wird in diesem Jahr wie die "Freie Presse" 75, da kann man schon einmal über alte Zeiten plaudern. Auf dem Tisch liegt die Zeitung mit dem Spielbericht. "Zwickau bezwang den Favoriten Dynamo Dresden nach großem Kampf 6:5 nach Elfmeterschießen", heißt es in der Zeile unter der Überschrift. Im Text sagt Croy zu seinem entscheidenden Strafstoß: "An und für sich konnte nichts schiefgehen." Hoppla, fühlte sich der Tormann, der darauf spezialisiert ist, Bälle zu halten und keine Tore zu schießen, wirklich so sicher? "Ja", lacht Jürgen Croy 46 Jahre nach diesem Schuss. "Ich war wirklich guter Dinge. Ich hatte vorher zwei Elfmeter gehalten. Hätte ich meinen verschossen, wäre noch nichts verloren gewesen."

Es ist 16.35 Uhr an jenem 14. Juni des Jahres 1975. Eine leichte Brise weht durch das weite Stadionrund. Croy legt sich das Leder zurecht, die Geräuschkulisse auf den Rängen vernimmt er nur noch im Unterbewusstsein. Elf Meter von ihm entfernt im Tor von Dynamo Dresden steht Claus Boden, und ein paar Meter weiter hat sich Frank Kruczynski, der Mann mit der Kamera, postiert. Er richtet sein Teleobjektiv durch das Netz auf Croy und hält die letzten Augenblicke vor der entscheidenden Aktion fest. 80 Prozent der Schützen überwinden den Tormann im Strafstoßschießen, insofern stehen zumindest rein statistisch die Chancen nicht schlecht. Aber was heißt das schon in so einem wichtigen Spiel und in so einer dramatischen Situation? Der Rundfunkreporter beschreibt die Nervenanspannung während dem Elfmeterschießen so: "Die meisten Zwickauer Spieler haben sich abgewendet, sie schauen gar nicht mehr hin."

Eine knappe halbe Sekunde, nachdem Croy an den Punkt gelaufen und abgeschossen hat, zappelt der Ball im Netz. Der einzige Zwickauer im Stadion, der nicht mit in den riesigen Freudentaumel verfällt, heißt Frank Kruczynski. Er drückt wieder und immer auf den Auslöser seiner zweiten Kamera. Die befindet sich auf einem Bodenstativ neben dem Tor - so gelingen ihm weitere einzigartige Schnappschüsse. Später sitzt er wie auf heißen Kohlen. Der Barkas mit dem Sektionsleiter fährt erst spät nach Zwickau zurück, der Fotograf ist gegen Mitternacht zuhause. Bis zum Morgen entwickelt er in seiner kleinen Dunkelkammer die Filme. Am Vormittag bringt sie Kruczynski in die Lokalredaktion, am Mittag kommt ein Kurier, der die Abzüge nach Karl-Marx-Stadt in die Sportredaktion fährt.

Und Jürgen Croy, der Held von Berlin? Monate später gelingt im Europapokalspiel gegen Florenz noch einmal das gleiche Kunststück. Frank Kruczynski war natürlich wieder mit dabei. "Aber die Fotos meines Lebens, die habe ich damals in Berlin geschossen", sagt der Fotograf heute.

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