Seit jenem 10. April 1987 hofft Frank Wunderlich, dass der Mörder gefunden und zur Rechenschaft gezogen wird. Mit jedem Jahr und erst recht mit jedem Jahrzehnt, das verstrich, schwand diese Hoffnung. Bis zum März 2016. Da rief ihn Enrico Petzold von der Mordkommission in Zwickau an, der seit dem Jahr 2000 mit dem Fall neu befasst war. Er sagte, es habe gerade eine Festnahme gegeben. Er werde am Abend vorbeikommen. "Bis zu jenem Abend hatten wir immer Angst, es könnte jemand aus dem Bekanntenkreis gewesen sein, einer, dem wir vielleicht sogar regelmäßig die Hand schütteln." Dass ein Frührentner in Gera verhaftet worden war, sei daher eine doppelte Erleichterung gewesen.
Das ist inzwischen 16 Monate her. Noch immer quält Frank Wunderlich vor allem eine Frage: Wie und wo sind sich Täter und Opfer an jenem regennassen Abend begegnet? Was sich danach abgespielt hat, bekam der Bruder in allen Einzelheiten von einem Rechtsmediziner zu hören, der den Obduktionsbericht von 1987 akribisch analysiert und interpretiert hat. Qualvoll sei die Schwester gestorben, sagt der Facharzt Hans-Peter Kinzl, mit zahlreichen, auch schweren Verletzungen im Genital- und Analbereich. Alles, was der Mörder mit seinem Opfer in jener Nacht im Wald angestellt hat, bekommt Frank Wunderlich zu hören - jedes Detail. Mancher Zuschauer im Saal fragte sich, wie die Brüder das ertragen konnten.
Beide hoffen immer noch auf ein Geständnis, "dass der Mann sein Gewissen erleichtert", sagen sie. "Dann wären möglicherweise diese quälenden Fragen beantwortet und wir könnten vielleicht besser abschließen." Aber so recht daran glauben können sie nicht: "Sein Wesen ist von Gewalt, Boshaftigkeit und Berechnung geprägt, also ist damit eher nicht zu rechnen."
Annerose Wunderlich, die Mutter, war 47 Jahre alt, als ihre Tochter ermordet wurde. Die Söhne und die Anwälte waren sich von Anbeginn einig, dass man der gesundheitlich schwer angeschlagenen 77-Jährigen den Weg ins Gericht ersparen sollte. "Wir berichten unserer Mutter von allen Verhandlungen. Für sie war und ist es am allerschwersten. Sie will endlich Gewissheit. Und sie möchte ihren inneren Frieden finden", sagt der Sohn.
Der Vater hat den Prozessbeginn zwar noch erlebt, starb aber drei Wochen später ganz unerwartet. Wieder stand die Familie unter Schock. "Er hat seine Gefühle nie nach außen getragen, aber der Familie immer Halt gegeben", sagt der Sohn. "Der Prozess und das ganze Drumherum haben ihm das Herz gebrochen." Dabei hätten ihnen Verwandte und Freunde immer wieder Mut gemacht. "Sogar Fremde klingeln an unserer Tür und wünschen uns Kraft. Auch ins Gericht begleiten uns oft Menschen, um zu zeigen, dass sie hinter uns stehen."
Solche Gesten würden ihm helfen, sagt der Bruder, gerade weil man als Angehöriger ja auch Opfer sei und viel auszuhalten habe. Am meisten wühle ihn auf, dass der Gesundheitszustand des Angeklagten offenbar besser ist, als der vorgibt. "Wenn ich im Prozess von immer neuen Zeugen höre, dass er Schach spielen kann, Videospiele macht, dass er sich in Freiheit am Telefon verständlich gemacht hat, dass er Zeitung lesen oder zumindest die Werbepreise vergleichen kann, dass er in Zwickau im Gefängnis die Treppen steigt und wie er sich im Mai an einer Vergewaltigungsszene in einem ,Tatort' berauscht hat, dann weiß ich, dass er allen etwas vormacht", meint Frank Wunderlich. Die Unterhaltungen mit seinen Anwälten in den Pausen oder nach den Verhandlungen, das Lachen, das Schulterklopfen seien für ihn eine Zerreißprobe. "Und es ist uns gegenüber auch respektlos." Auch der psychiatrische Sachverständige hatte dem Angeklagten bescheinigt, dass er nicht nur schuldfähig, sondern trotz gesundheitlicher Einschränkungen auch verhandlungsfähig ist. Letzteres hatten seine Verteidiger zunächst in Frage gestellt.
Die Wunderlich-Brüder hegten große Erwartungen, als es plötzlich hieß, es gebe ein Zellengeständnis. Ein Mitgefangener hatte im Mai einer Wärterin und dem Gefängnispfarrer berichtet, dass der Angeklagte ihm von der Tat berichtet habe: Er hätte eine Frau vom Moped gezogen, missbraucht und umgebracht. Der Richter nahm den Zellenkumpel im Juni ins Kreuzverhör. Aber er glaubte ihm nicht. Er habe mit der Aussage nur seine vorzeitige Entlassung erwirken wollen, stellte gleich darauf einen entsprechenden Antrag, meint der Vorsitzende. Frank Wunderlich sieht es anders: "Der Mann war nervös und durch die vielen Zwischenfragen sichtlich eingeschüchtert. Dann wurde ihm auch noch eine frühere Falschaussage in einem Verfahren angelastet. Von da an spürte er, dass man seine Angaben bezweifelt. Für uns waren seine Schilderungen glaubhaft, auch das, was er über den Gesundheitszustand des Angeklagten sagte, nämlich, dass der andere täuscht."
Vielleicht sei er genau deshalb im Herbst 1986 vorzeitig aus der Haft entlassen worden. "Ich kann nicht beurteilen, welche Fehler damals von der Justiz gemacht wurden. Aber wäre er da nicht rausgekommen, würde Heike vielleicht noch leben. Dieser Gedanke geht mir immer wieder durch den Kopf." Zu den belastenden Indizien in diesem Prozess gehört für den gelernten Elektromonteur auch, dass der Angeklagte viele Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hat, auch wegen Sexualdelikten. Nur dass diese Opfer dabei nicht zu Tode kamen.
Frank Wunderlich hofft, im Urlaub etwas zur Ruhe zu kommen und Kraft zu tanken. 2000 Kilometer trennen ihn gerade vom Gericht. Ab 2. August wird weiterverhandelt. Dann soll der Chefermittler erläutern, warum andere Tatverdächtige letztlich ausgeschlossen wurden. Wunderlich hat die Worte des Vorsitzenden Richters noch im Kopf, der im Juni darauf hinwies: "Im Fall einer Verurteilung wegen Mordes kommt zusätzlich eine besondere Schwere der Schuld in Betracht." Helmut S. drohte damit die Höchststrafe: lebenslang - ohne Chance auf vorzeitige Entlassung. Frank Wunderlich hofft, dass es so kommt.