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Mordprozess Heike Wunderlich: "Er soll unseren Hass spüren"

1987 stirbt in Plauen ein junges Mädchen. Ein Mord. Seit Dezember 2016 läuft vor dem Landgericht Zwickau der Prozess. Ein Ende ist auch nach 37Verhandlungstagen nicht in Sicht. Für die Angehörigen des Opfers sind es qualvolle Wochen und Monate. Ein Bruder erzählt, wie er den Prozess erlebt.

Plauen/Zwickau.

Frank Wunderlich könnte die Strecke von seinem Haus in Altensalz nahe der Talsperre Pöhl bis ins Landgericht nach Zwickau fast schon mit verbundenen Augen fahren. 30 mal hat er die jeweils 50 Kilometer seit dem 12. Dezember letzten Jahres zurückgelegt. Immer nimmt er gefasst im Schwurgerichtssaal gegenüber jenem Mann Platz, der vor 30 Jahren seine Schwester ermordet haben soll. Er ist überzeugt, dass der 62-Jährige es war. Denn wie soll die DNA von Helmut S. sonst an den BH seiner Schwester gekommen sein? Täter und Opfer kannten sich nicht. Das ist das Einzige, das auch der Beschuldigte in einer Vernehmung eingeräumt hat. Mit dem BH, verknotet mit ihrem Slip und dem Gepäckband des Mopeds, war die 18-Jährige nach einem sexuellen Martyrium erdrosselt worden. Eine mögliche Verunreinigung der DNA-Spur hatte der Spurensachverständige des Landeskriminalamtes ausgeschlossen.Nur zu sieben Prozesstagen konnte Frank Wunderlich bisher nicht ins Gericht kommen, lässt sich aber als Nebenkläger anwaltlich vertreten - ebenso wie sein älterer Bruder und ihre Mutter. Die beiden Anwälte haben die Familie gut auf den Prozess und das, was sie dort ertragen muss, vorbereitet - auch durch vollständige Akteneinsicht. "Wir versuchen, dass immer wenigstens einer von uns vor Ort ist. Der Täter soll unsere Nähe und unseren Hass spüren", sagt Frank Wunderlich. Er arbeitet im Center-Management eines Plauener Einkaufszentrums. Sein Arbeitsweg führt jeden Tag am Tatort vorbei. Oft tauscht er seine Schichten, damit er nach Zwickau fahren kann. Wenn es ihr Dienst erlaubt, begleitet ihn seine Frau ins Gericht. Ihre Schwägerin Heike hat sie nie kennengelernt. Einmal sind auch ihre zwei erwachsenen Töchter mit in den Schwurgerichtssaal gekommen. Sie sind heute nur wenig älter als ihre Tante Heike damals. Ehefrau Nicole will ihrem Mann an den Prozesstagen Halt geben, sagt sie. Keiner hatte zu Verhandlungsbeginn im Dezember eine Vorstellung, wie lange der Prozess dauern wird. Termine gibt es bis Jahresende.

Zwischenzeitlich schien es, als würde vielleicht vor der jetzigen Sommerpause der Kammer ein Urteil fallen. Dann hätten die Wunderlichs vergangene Woche wenigstens ein bisschen entspannter in den Urlaub fliegen können. Doch der Mann, den sie für den Mörder von Heike halten, tut nichts dafür. Seit sieben Monaten schweigt er. Nicht, weil ihn ein Schlaganfall von 2012 am Sprechen hindert, sondern weil er offenbar nicht zur Aufklärung des Verbrechens beitragen will. Helmut S. leugnet die Tat nicht, er gesteht sie aber auch nicht. Er sagt einfach nichts. Dafür spricht er in den Pausen, die für ihn gemacht werden müssen. Dann lacht der Angeklagte auch schon mal und kommuniziert mit seinen beiden Anwälten. "Das sind die schlimmsten Momente für uns. Denn das sagt uns, dass er allen etwas vorspielt", sagt Frank Wunderlich. Viele im Saal bewundern den dreifachen Familienvater, wie er sich unter Kontrolle hat. Seine Miene verrät nichts über seinen Gemütszustand. Aber er hat Helmut S. stets fest im Blick. Nur einmal verliert er die Fassung: an jenem Tag, an dem er selbst im Zeugenstand dem Gericht schildern soll, was für ein Mensch seine Schwester war. Als die Vernehmung schon beendet ist, bittet Frank Wunderlich den Richter noch einmal ums Wort. Dann sprudeln aus dem sonst eher zurückhaltenden Vogtländer die Gedanken heraus: "Dieser Mann war 30Jahre lang ein Schauspieler. Man kann auch jetzt nicht erwarten, dass er die Tat zugibt. Auch dem Gutachter wird er etwas vorspielen und ihn täuschen." Einen Ton schärfer folgen Worte, die keiner erwartet hatte: "Deine Gesundheit ist uns egal. Wir spucken auf dich!"

Ein halbes Jahr später sagt Frank Wunderlich: "Meine Worte an diesem Tag an den Angeklagten sollten zum Ausdruck bringen, was wir als Familie über ihn denken, wie wir fühlen. Wir müssen vor Gericht die Ruhe bewahren, wollen die Verhandlung nicht durch emotionale Ausbrüche stören. Dennoch sind wir jedes Mal hoch angespannt. Das musste einfach mal raus."Frank Wunderlich war 15 Jahre alt, als seine Schwester ermordet wurde. Er erinnert sich genau an den 10. April 1987, wie ihn sein Vater morgens um 6 Uhr für die Schule weckte und sagte, dass Heike nicht nach Hause gekommen sei. Die Mutter lag im Krankenhaus, der Vater hatte abends vergeblich auf die Tochter gewartet. "Er wusste, dass sie nach der Volkshochschule noch zu einer Freundin in Plauen wollte, aber nicht, wo das war. Wir nahmen an, dass sie wegen des Regenwetters dort über Nacht geblieben war. Ein Telefon hatten wir nicht." Gegen 14.45 Uhr habe ihn der Vater dann von der Schule abgeholt und gesagt, dass Heike immer noch nicht da sei und er deshalb eine Vermisstenanzeige erstattet habe. Als Vater und Sohn dann die Voigtsgrüner Straße - die Verbindung zwischen Plauen und ihrem Wohnort Altensalz - hochgefahren seien, hätten sie auf dem dortigen Holzlagerplatz einen Polizeiauflauf gesehen und angehalten. Ein Polizist habe sie ziemlich barsch aufgefordert weiterzufahren. "Da war uns klar, dass etwas passiert sein musste." Bis kurz vor Mitternacht wussten sie aber nicht, was. "Dann klingelte es. Ein Beamter stand vor der Tür und sagte: ,Ihre Tochter ist Opfer eines Tötungsverbrechens geworden.'" Das war in der Nacht vom 9. zum 10. April 1987. "Ich wollte es nicht glauben. Zwei Tage zuvor war Heike noch mit mir auf ihrem Moped diese Strecke gefahren. Wir hatten ein enges Verhältnis, gingen in dieselbe Schule. Sie erzählte mir oft von ihren Erlebnissen, auch ihren ersten Freunden. Es war auch die Zeit, wo sie mich immer mal mit in eine Disko nahm."

Seit jenem 10. April 1987 hofft Frank Wunderlich, dass der Mörder gefunden und zur Rechenschaft gezogen wird. Mit jedem Jahr und erst recht mit jedem Jahrzehnt, das verstrich, schwand diese Hoffnung. Bis zum März 2016. Da rief ihn Enrico Petzold von der Mordkommission in Zwickau an, der seit dem Jahr 2000 mit dem Fall neu befasst war. Er sagte, es habe gerade eine Festnahme gegeben. Er werde am Abend vorbeikommen. "Bis zu jenem Abend hatten wir immer Angst, es könnte jemand aus dem Bekanntenkreis gewesen sein, einer, dem wir vielleicht sogar regelmäßig die Hand schütteln." Dass ein Frührentner in Gera verhaftet worden war, sei daher eine doppelte Erleichterung gewesen.

Das ist inzwischen 16 Monate her. Noch immer quält Frank Wunderlich vor allem eine Frage: Wie und wo sind sich Täter und Opfer an jenem regennassen Abend begegnet? Was sich danach abgespielt hat, bekam der Bruder in allen Einzelheiten von einem Rechtsmediziner zu hören, der den Obduktionsbericht von 1987 akribisch analysiert und interpretiert hat. Qualvoll sei die Schwester gestorben, sagt der Facharzt Hans-Peter Kinzl, mit zahlreichen, auch schweren Verletzungen im Genital- und Analbereich. Alles, was der Mörder mit seinem Opfer in jener Nacht im Wald angestellt hat, bekommt Frank Wunderlich zu hören - jedes Detail. Mancher Zuschauer im Saal fragte sich, wie die Brüder das ertragen konnten.

Beide hoffen immer noch auf ein Geständnis, "dass der Mann sein Gewissen erleichtert", sagen sie. "Dann wären möglicherweise diese quälenden Fragen beantwortet und wir könnten vielleicht besser abschließen." Aber so recht daran glauben können sie nicht: "Sein Wesen ist von Gewalt, Boshaftigkeit und Berechnung geprägt, also ist damit eher nicht zu rechnen."

Annerose Wunderlich, die Mutter, war 47 Jahre alt, als ihre Tochter ermordet wurde. Die Söhne und die Anwälte waren sich von Anbeginn einig, dass man der gesundheitlich schwer angeschlagenen 77-Jährigen den Weg ins Gericht ersparen sollte. "Wir berichten unserer Mutter von allen Verhandlungen. Für sie war und ist es am allerschwersten. Sie will endlich Gewissheit. Und sie möchte ihren inneren Frieden finden", sagt der Sohn.

Der Vater hat den Prozessbeginn zwar noch erlebt, starb aber drei Wochen später ganz unerwartet. Wieder stand die Familie unter Schock. "Er hat seine Gefühle nie nach außen getragen, aber der Familie immer Halt gegeben", sagt der Sohn. "Der Prozess und das ganze Drumherum haben ihm das Herz gebrochen." Dabei hätten ihnen Verwandte und Freunde immer wieder Mut gemacht. "Sogar Fremde klingeln an unserer Tür und wünschen uns Kraft. Auch ins Gericht begleiten uns oft Menschen, um zu zeigen, dass sie hinter uns stehen."

Solche Gesten würden ihm helfen, sagt der Bruder, gerade weil man als Angehöriger ja auch Opfer sei und viel auszuhalten habe. Am meisten wühle ihn auf, dass der Gesundheitszustand des Angeklagten offenbar besser ist, als der vorgibt. "Wenn ich im Prozess von immer neuen Zeugen höre, dass er Schach spielen kann, Videospiele macht, dass er sich in Freiheit am Telefon verständlich gemacht hat, dass er Zeitung lesen oder zumindest die Werbepreise vergleichen kann, dass er in Zwickau im Gefängnis die Treppen steigt und wie er sich im Mai an einer Vergewaltigungsszene in einem ,Tatort' berauscht hat, dann weiß ich, dass er allen etwas vormacht", meint Frank Wunderlich. Die Unterhaltungen mit seinen Anwälten in den Pausen oder nach den Verhandlungen, das Lachen, das Schulterklopfen seien für ihn eine Zerreißprobe. "Und es ist uns gegenüber auch respektlos." Auch der psychiatrische Sachverständige hatte dem Angeklagten bescheinigt, dass er nicht nur schuldfähig, sondern trotz gesundheitlicher Einschränkungen auch verhandlungsfähig ist. Letzteres hatten seine Verteidiger zunächst in Frage gestellt.

Die Wunderlich-Brüder hegten große Erwartungen, als es plötzlich hieß, es gebe ein Zellengeständnis. Ein Mitgefangener hatte im Mai einer Wärterin und dem Gefängnispfarrer berichtet, dass der Angeklagte ihm von der Tat berichtet habe: Er hätte eine Frau vom Moped gezogen, missbraucht und umgebracht. Der Richter nahm den Zellenkumpel im Juni ins Kreuzverhör. Aber er glaubte ihm nicht. Er habe mit der Aussage nur seine vorzeitige Entlassung erwirken wollen, stellte gleich darauf einen entsprechenden Antrag, meint der Vorsitzende. Frank Wunderlich sieht es anders: "Der Mann war nervös und durch die vielen Zwischenfragen sichtlich eingeschüchtert. Dann wurde ihm auch noch eine frühere Falschaussage in einem Verfahren angelastet. Von da an spürte er, dass man seine Angaben bezweifelt. Für uns waren seine Schilderungen glaubhaft, auch das, was er über den Gesundheitszustand des Angeklagten sagte, nämlich, dass der andere täuscht."

Vielleicht sei er genau deshalb im Herbst 1986 vorzeitig aus der Haft entlassen worden. "Ich kann nicht beurteilen, welche Fehler damals von der Justiz gemacht wurden. Aber wäre er da nicht rausgekommen, würde Heike vielleicht noch leben. Dieser Gedanke geht mir immer wieder durch den Kopf." Zu den belastenden Indizien in diesem Prozess gehört für den gelernten Elektromonteur auch, dass der Angeklagte viele Jahre seines Lebens im Gefängnis verbracht hat, auch wegen Sexualdelikten. Nur dass diese Opfer dabei nicht zu Tode kamen.

Frank Wunderlich hofft, im Urlaub etwas zur Ruhe zu kommen und Kraft zu tanken. 2000 Kilometer trennen ihn gerade vom Gericht. Ab 2. August wird weiterverhandelt. Dann soll der Chefermittler erläutern, warum andere Tatverdächtige letztlich ausgeschlossen wurden. Wunderlich hat die Worte des Vorsitzenden Richters noch im Kopf, der im Juni darauf hinwies: "Im Fall einer Verurteilung wegen Mordes kommt zusätzlich eine besondere Schwere der Schuld in Betracht." Helmut S. drohte damit die Höchststrafe: lebenslang - ohne Chance auf vorzeitige Entlassung. Frank Wunderlich hofft, dass es so kommt.

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