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Der neue Fantasy-Thriller "Oderbruch": Die Vampire sind unter uns

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Der Leichenberg zum Beginn des ARD-Degeto-Achtteilers ist nur die Spitze des Eisbergs. So monströs und nahe am Horror-Genre ist öffentlich-rechtliche Fernsehfiktion selten gewesen.

ARD Mediathek.

Irgendetwas wird hängen bleiben an dieser Region. Und es wird vermutlich anders sein als beim Erzgebirgskrimi des ZDF. Der verhandelt im Grunde ganz normale Kriminalität mit regionalen Bezügen in einer durch das Verbrechen stets gebrochenen Idylle. Aber eben auch keine Fälle, die dermaßen extrem abweichen von der Normalität, vom Alltag,  die nicht auch Kriminalplots aus anderen Regionen Deutschlands zu bieten haben.

Aber das? Was den in der ARD-Mediathek in die vorderste Reihe gestellten Achtteiler "Oderbruch" angeht, gestaltet sich die Sache spezieller. Der mehr als 100 menschliche Leichen und Tierkadaver umfassende Berg, den zwei Angler im Morgengrauen auf einem brachliegenden Feld im deutsch-polnischen Grenzgebiet vorfinden, ist, man möchte fast sagen, im wahrsten Sinne des Wortes, nur die Spitze des Eisbergs. Nun steht dieser Haufen Tod auf einmal wie ein übergroßes, stinkendes Fragezeichen vor den deutschen und polnischen Ermittlern. Die errichten um den rottenden Stapel herum eine Zelt- und Containerstadt, die aus der Luft ein wenig an eine Wagenburg oder eine ausgegrabene und rekonstruierte prähistorische Kultstätte erinnert.

Das Grauen lässt sich Zeit in der ersten Staffel dieses Mystery-Thrillers, einem von der ARD eher selten gepflegten Genre. Zunächst ist da nur der ziemlich bald gesicherte Umstand, dass praktisch allen auf dem Haufen vorgefundenen Leichen das Blut fehlt. Und dass ihre Todeszeitpunkte sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken. Von da allerdings ist der Schritt nicht mehr weit zum eigentlichen Thema des alles in allem reichlich siebenstündigen Streaming-Dramas: Die Vampire sind unter uns.

Ostbrandenburg, das neue deutsche Transsylvanien?

Der Osten Brandenburgs als das deutsche Transsylvanien? Diese Erkenntnis freilich lässt eine Zeitlang auf sich warten. Das ändert nichts daran, dass diese Mystery-Serie den Zuschauer von Anfang an packt. Ein Leichenberg, von dessen Spitze aus man weit in die flache, seit Ende des Zweiten Weltkriegs blutgetränkte Flussebene in einer der am dünnsten besiedelten Regionen Deutschlands blicken könnte - da stellt sich ja schon mal die Frage: Wie kommt er dorthin? Wie hat jemand das gemacht? Noch bevor man sich Gedanken über Opfer, Täter, Motive und dem ganzen Krimikram macht.

Das Autorenkollektiv aus Arend Remmers, Martin Behnke, Ronny Schalk und Christian Alvart, der gemeinsam mit Adolfo J. Kolmerer Regie führt, lässt sich mit dem Erzählen Zeit und verliert sich dennoch nicht. Bald kristallisiert sich die Geschichte um Magdalena Kring (Caroline Schuch/jung: Alix Heyblom) heraus, die als ehemalige Polizistin in die Ermittlungen hineingerät. Ihr kleiner Bruder Kai (Julius Gause/jung: Edgar Emil Garde) kam vermeintlich beim Oderhochwasser 1997 ums Leben und hat auf dem Friedhof der (fiktiven) Oderbruch-Gemeinde Krewlow (gesprochen: Krelo) seine letzte Ruhe gefunden. Doch daran hegt sie nun Zweifel und strengt, von düsteren Ahnungen getrieben, eigene Ermittlungen an. Je weiter die Handlung fortschreitet, desto monströser wird die Geschichte und weitet sich zu einem düsteren, grenzüberschreitenden, mehrere Generationen umfassenden Geheimnis zweier Familien aus.

Sie schlafen nicht in Särgen

Die Ästhetik der Serie bricht mit den gewohnten Vampirfilm-Klischees um Nosferatu, Dracula & Co. Die blutsaugenden Gestalten in "Oderbruch" sind ganz normale Menschen, die sich weder durch blassen Teint, noch durch auffallend ausgeprägte Eckzähne, absonderliche Kleidung oder andere Äußerlichkeiten von ihren Mitmenschen unterscheiden. Sie schlafen nicht in Särgen und sind voll tageslichttauglich, zerfallen also auch nicht angesichts der Sonne zu Staub. Und selbst die verborgenen Auffälligkeiten, die ihnen zu eigen sind, wie etwa im Film mit Spezialeffekten visualisierte übernatürliche physische Kräfte, sowohl zu Angriff und Verteidigung, als auch zur Selbstheilung, setzen die Macher von "Oderbruch" nicht inflationär ein, sondern sehr gezielt, pointiert, stets der jeweiligen Handlungssituation angemessen. 

Um an den Lebenssaft zu kommen, nach dem sie süchtig sind, gehen die Vampire von heute ganz pragmatisch vor. Für den ersten Schluck gegen den großen Gieper kann man sicher auch schon mal kraftvoll zubeißen. Aber ein Taschenmesser erfüllt den gleichen Zweck, und wenn technisch möglich, legt man sich Vorräte des ganz besonderen Safts an, die man bevorzugt in undurchsichtigen Flaschen mit sich führt. Mit Zitronensaft als Gerinnungshemmer versetzt. Der moderne Vampir setzt auf Ressourcenschonung.

Internat mit Blutspendepflicht

Heruntergebrochen auf unsere Gesellschaft, sind Vampire in dieser Serie nichts anderes als Junkies. Süchtige. Getriebene mithin. Nur dass sie eben morden müssen, um an ihren Stoff zu kommen. Sich ersatzweise, quasi als Methadon-Programm, mit Tierblut aus der Schlachterei begnügen. Oder, wie in einem besonders befremdlichen Seitenstrang der Serie, ein Internat in der polnischen Provinz betreiben, das  Schülerinnen und Schüler aufnimmt, die sonst keiner will. Kinder, zu deren regelmäßigem Pflichtprogramm das Spenden von Blut gehört. Und nach denen auch niemand fragt, sollten sie doch einmal verschütt gehen. 

Das Beklemmende der Szenerien ist stets greifbar, ganz aus sich heraus. Dazu mussten die Autoren noch nicht mal in die bei solcher Gelegenheit gern geplünderte DDR-Kiste greifen.  Das flache Land, das nicht recht weiß, wohin mit sich, wird hier zu einer Zone, in die die Beteiligten geworfen scheinen, aus der es kein Entrinnen gibt. Die nächste Stadt, ein anderes Leben sind weit, weit entfernt. Derlei Szenerien findet man selbst in Deutschlands Osten - zumindest vom äußerlichen Schein - nur noch sehr bedingt.

Deswegen wurden neben Brandenburg große Teile der Serie im Frühjahr 2022 in Görlitz, Breslau, Danzig und in der polnischen Provinz gedreht, mit neuen, unverbrauchten Gesichtern wie Felix Kramer und Lucas Gregorowicz als deutsch-polnisches Ermittlerduo Roland Voit und Stanislaw Zajak. Es gibt ein Wiedersehen mit alten Bekannten Ost (Winfried Glatzeder) wie West (Henning Venske). Vom Debütanten bis zum alten Hasen spielt das ganze Ensemble in beeindruckender, bisweilen bedrückender Authentizität. Positiv fällt dabei überdies auf, dass all dies möglich ist, ohne dass - Achtung, liebe Kollegen von den diversen "Tatort"-Teams! -  die Schauspieler je ins Nuscheln verfallen. Obendrauf gibt's Elemente von Roadmovie bei der Spurensuche in Rumänien und von surrealem Actionthriller zum finalen Showdown.

Der wiederum lässt eine Fortsetzung zu, ja, erfordert sie geradezu. Denn noch längst sind nicht alle Fragen beantwortet, die der Leichenberg zu Beginn der Serie aufgeworfen hat. Und wenn die ARD in der Mediathek von einer 1. Staffel spricht, hat man wohl allen Anlass anzunehmen, dass das seinen Grund hat. 

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