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„Traditionelle Rollenbilder waren erstmal Luxus“ - Chemnitzer Historiker über Geschlechterrollen in Antike, Neuzeit und DDR

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Heute diskutiert man ganz selbstverständlich über Geschlechterunterschiede bei Lohn und Arbeitszeit. Aber war das schon immer so? Geschichtsprofessor Marian Nebelin erklärt es im Interview.

Freie Presse: Herr Nebelin, der Mann geht arbeiten, die Frau kümmert sich um Haushalt und Kinder - seit wann gibt es dieses traditionelle Rollenbild?

Marian Nebelin: Das geht einher mit der Entwicklung des Begriffs Familie. Wir verstehen darunter üblicherweise eine Kernfamilie, also Vater, Mutter und Kind. Dieses Bild entstand eigentlich erst im 18. Jahrhundert, davor war der Begriff viel weiter gefasst. Wenn sie es sich leisten konnten, dann umfasste ein Haushalt im antiken Rom beispielsweise auch Sklavinnen und Sklaven, Freigelassene und einen diffusen Kreis an Verwandten.

FP: Was war ausschlaggebend, dass sich der Familienbegriff verengt hat und sich die Rollenbilder herausbildeten?

Nebelin: Damals haben sich die gesellschaftlichen Schichten verändert. Es entstand eine relativ breite bürgerliche Schicht, die etwas reicher war und es sich leisten konnte, sich auf einen kleineren Personenkreis zu beschränken. Die Männer verdienten in ihr so viel, dass die Frauen zu Hause bleiben konnten. Das bedeutete erstmal Luxus, weil es Arbeitslasten von den Frauen wegverlagert hat.

FP: Die bürgerliche Schicht umfasste aber nicht die ganze Gesellschaft.

Nebelin: Richtig, aber die reicheren Schichten sind immer normbildend gewesen. Sie sind Vorbilder für den Rest der Gesellschaft. Von ihnen hängt wesentlich ab, welche Vorstellungen sich als gesellschaftliches Ideal durchsetzen. Dieses Ideal wirkte auch aus nachvollziehbaren Gründen für viele Arbeiterfamilien attraktiv, in denen vorher alle Familienmitglieder bis in ein hohes Alter hart arbeiten mussten.

Antikes Rom: Arbeitsteilung mit Sklaven

FP: Sie haben die Zeit der Römischen Republik schon erwähnt. Was weiß man denn heute darüber, wie die Rollenbilder in der Antike oder noch weiter zurückliegenden Zeiten waren?

Nebelin: Wir wissen mittlerweile, dass die Rollenbilder bereits in der Ur- und Frühgeschichte nicht so starr waren, wie das lange vermutet wurde. Früher neigten Historiker dazu, ihre modernen Vorstellungen in die Vergangenheit zu projizieren. Wenn man bei einer Ausgrabung eine Ruhestätte entdeckte, in der auch Waffen gefunden wurden, dann nahm man schnell an, dass es sich um das Grab eines Mannes handelte. Töpfe und Gefäße deuteten dagegen auf Frauen. Neuere Forschungsergebnisse zeigen, dass das zwar für einen hohen Prozentsatz zutrifft, aber nicht für alle. Es gibt eben auch sehr viele Gräber von Frauen, die mit Bewaffnung begraben wurden oder mit Dingen, die wir für Waffen halten. Daraus kann man folgern, dass sie in der Gesellschaft eine entsprechende Rolle ausgeübt haben.

FP: Was wissen wir über die alten Römer und Griechen?

Nebelin: Wesentlich mehr. Aber beide Fälle unterscheiden sich deutlich. Im antiken Athen war die Frau für alles zuständig, das im Haus stattfand. Außerhalb des Hauses begann die Welt der Männer. Es sind Quellen überliefert, aus denen hervorgeht, dass eine „gute Frau“ eine sei, die nicht auffalle und quasi unsichtbar ist. Aus anderen Quellen geht hervor, dass auch Frauen unterschiedliche Rollen einnahmen, aber es gab eine deutliche Machtasymmetrie der Geschlechter, das heißt: Männer hatten mehr Einfluss und mehr Rechte als Frauen.

FP: Und die Römer hatten dagegen Gleichberechtigung?

Nebelin: Nein, auch dort herrschte diese Asymmetrie vor. Aber während in Athen die Frauen nicht einmal mit den Männern am Tisch gegessen haben, war das in einer römischen Ehe normal. Dort hatten die Frauen Eigentum und konnten sich scheiden lassen. Römische Frauen waren unabhängiger, souveräner gegenüber ihren Ehepartnern. Auf die Politik konnten sie indirekt Einfluss nehmen. Zwar hatten sie keine Stimme in den Entscheidungsgremien, aber es gab das typische Rollenbild der Matrone. Das ist eine Mutter aus der römischen Oberschicht, die einen großen Politiker hervorgebracht hat und sich in die politischen Diskussionen einmischt. Und wir kennen auch Fälle, bei denen in den großen Familien eine Lücke auftritt, das heißt kein Mann alt genug ist, um die Familie zu repräsentieren. Dann hält die Frau und Mutter die Familie im Gespräch, zum Beispiel durch extreme Luxusdemonstration. Daran sieht man, dass die Machtasymmetrie in Rom und Athen sehr unterschiedlich ausgeprägt war.

Streit über Geschlechterrollen ist ein Phänomen unserer Zeit

FP: Heute wird über die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern gern gestritten. Der Gender-Pay-Gap und Gender-Care-Gap sind Themen in der Politik. Sind solche Bewegungen auch aus der Antike bekannt?

Nebelin: In der Intensität, mit der heute darüber diskutiert wird, ist das ein neues Phänomen unserer Zeit. Das entstand mit der Verfestigung der Rollenbilder im 19. Jahrhundert und ist seit den 1960er-Jahren ein großes Thema. Dass die Menschenrechte als universal – und damit auch für Frauen geltend – begriffen wurden, ist da ein unglaublicher Beschleuniger. In der Antike findet man dagegen eher Erörterungen von Geschlechterverhältnissen, weniger die Kritik daran. Aber ein Fall aus Rom ist überliefert: die Rede der Hortensia. Sie protestierte 42 vor Christus mit anderen Frauen dagegen, dass zur Finanzierung des Bürgerkrieges gegen die Mörder Caesars Teile ihres Schmucks in einer Sondersteuer eingezogen werden sollten. Die Frauen sagten, dass sie einen Krieg gegen äußere Mächte unterstützen würden, aber nicht den Kampf der römischen Männer untereinander. Dieser Fall ist aber eine Ausnahme. Meist sind die Diskurse in der Antike stark darauf ausgerichtet, Geschlechterverhältnisse zu stabilisieren.

FP: Bei der Debatte um den Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen fällt häufig auf, dass der im Osten Deutschlands deutlich geringer ist als in den alten Bundesländern. War die DDR bei den Frauenrechten Vorreiter?

Nebelin: Als Altertumswissenschaftler bin ich dafür kein Spezialist, aber nach meinem Eindruck ging es dem DDR-Regime nur darum, im „Arbeiter- und Bauernstaat“ auch Arbeiterinnen zu haben. Dieser ideologische Schritt hat die Frauen in den Beruf gebracht. Das ist natürlich eine Teilemanzipation. Diese berufliche Gleichheit hat sich aber auch nicht auf allen Führungsebenen gezeigt. Und die Emanzipation der Frauen in der DDR ist nicht mit nach Hause gegangen. Das Familienbild blieb traditionell und ein Großteil der Care-Arbeit lag weiterhin bei den Müttern.

Machtverteilung beeinflusst die Möglichkeit von Liebe

FP: Die Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zeichnet einen klaren Trend hin zu mehr Gleichheit und geringeren Unterschieden zwischen den Geschlechtern. Ist der Schluss zulässig, dass wir in naher Zukunft bei Lohn und Hausarbeit Gleichheit erreichen?

Nebelin: Den Trend gibt es, aber es gibt auch eine Gegenbewegung. Das Problem ist, dass Menschen immer etwas Verrücktes entgegen jeder Wahrscheinlichkeit tun können. Es ist natürlich möglich, den Emanzipationstrend aufzuhalten, zu verlangsamen oder gar umzukehren. Denken Sie nur an die Entwicklung, die sich jüngst in Afghanistan vollzogen hat. Was sich dort im Bereich des Schulsystems für Mädchen verändert hat, zeigt, dass alle Emanzipation verloren gehen kann.

FP: Aus der Geschichte kann man also nicht direkt ableiten, wie die Zukunft wird?

Nebelin: Nein, aber die Geschichte zeigt ein Spektrum an Möglichkeiten auf. Bisher zeigt sie, dass die Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern meist asymmetrisch sind – zugunsten der Männer und zuungunsten der Frauen. Aber wenn man über die Geschlechterordnung redet, dann geht es immer auch um die Möglichkeit von Liebesverhältnissen: Je ungleicher die Macht verteilt ist, desto schwieriger wird es für die Liebe. (eran)


Zur Person: Marian Nebelin

Der 42-Jährige ist seit vergangenem Jahr Professor für die „Geschichte der Antike und die Antikerezeption in der Moderne“ an der TU Chemnitz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem in der Europäischen Geschichte und der Kulturgeschichte des Politischen in der Antike. Nebelin ist verheiratet und hat ein Kind.

Dieser Text ist Teil einer Beitragsreihe. Die Volontäre der „Freien Presse“ haben in einem Projektmonat rund um das Thema „Arbeitsteilung in jungen Familien“ recherchiert. Die Familienporträts, Experten-Interviews, eine Datenanalyse, ein Quiz und die Sicht der jungen Reporter auf das Thema sind in Kürze auf der Übersichtsseite zu finden. Die Arbeit der Volontäre könnt Ihr auch auf Instagram und Twitter verfolgen.

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