Vidzeme ist Lettlands hügeligste Gegend mit vielen Felsen, Wald und Wasser – reich an Ritterburgen, Hexenflüssen, Teufelshöhlen. Kein Zufall, dass ihr Name an die Phantasiewelt Tolkiens denken lässt.
Wasser windet sich durch enge Schluchten, rinnt plätschernd über gelbe, rote, braune Felsen vielerlei Gestalt. Von oben gleicht die Fluss- und Sandsteinwunderlandschaft einem verbeulten, doch vor allem grünen Flickenteppich. Denn bis zum Horizont bedeckt sie Wald und Wildnis. Dahinter, knapp 40 Kilometer vor uns, rauscht bereits die Ostsee.
Wir sind in Sigulda, einst Segewold. Drei Fahrradstunden weit von Lettlands Hauptstadt Riga, die am flachen Rand der Region Livland liegt, beschleicht uns das Gefühl von einer phantasiegemachten Welt. Verstärkt wird das noch durch den Drachen, den die Provinz im Wappen trägt, und vor allem ihren Namen. Livland, lettisch Vidzeme, heißt wörtlich „Mittelerde“. Ob wir Orks und Elfen treffen? Mit einem Elch wären wir schon zufrieden. Unter uns liegt nun die Festung. Es ist nicht Tolkiens Isengart, sondern die mittelalterliche Backsteinburg Turaida (Treyden). In ihrer Mitte steht der 27 Meter hohe Bergfried, unser Aussichtsturm. Hinter den Mauern fließt die Gauja, windet sich in fast 100 Schlangenkurven durch Wälder, Sand und Felsen, bis sie in den Rigaischen Meerbusen mündet. Ihr zauberhaftes Tal, das zugleich wild und lieblich wirkt, wollen wir bei einer Paddeltour erkunden.
Titanic-Sound und Fischfossilien
Auf Jeņču Laivas, einem Campingplatz bei Cēsis, steht unser Kajak schon bereit. „Sveiki!“ begrüßt der blonde junge Lette uns in seiner Muttersprache, bevor er Englisch weiterspricht. „Ich bin Marcis“, sagt der Student, der jede freie Stunde nutzt, in der Natur zu sein. Bei seinem Sommerjob im Bootsverleih kann er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden.
„Ich liebe es zu angeln und zu paddeln. Hier habe ich fast jeden Tag Gelegenheit dazu“, verrät der 22-Jährige, gibt uns Tipps für unterwegs und hilft beim Start. Durch den sandigen, doch festen Untergrund geht alles einfach. Neben uns setzt sich ein Floß mit einer Grillgesellschaft in Bewegung. Ein Spaßvogel am Ufer spielt den Titanic-Song dazu. So fängt auch unser kleines Abenteuer mit großem Filmorchester an. Nur die Haare wehen nicht so schön wie die von Kate und Leonardo.
Dank Strömung treibt das leichte Kajak fast allein im Wasser. Es ist kühl und klar, doch rostig-braun getönt. Ein Berg von Münzen sei der Grund für ihre Farbe, weiß eine alte Sage. Eine Hexe soll das Geld einst in den Fluss geworfen haben. Sie strafte damit einen Mann, der ihr nicht helfen wollte. Vielleicht liegt es ja doch am Eisen. Sandstein enthält jede Menge davon.
Wir paddeln neben Jahrmillionen alten Felsen
Bereits nach ein paar Paddelschlägen fängt das wahre Kino an. Regie führt die Natur. Wir haben nur Statistenrollen. Hauptdarsteller sind die Gauja und ihr Tal aus bunten Felsenwänden. Oft sind sie von Wasserfällen ausgewaschen, ausgehöhlt, durchlöchert. Der Sandstein selbst ist viele Jahrmillionen alt. Er entstand in einem Urzeitmeer des Devon, dessen höchstentwickelte Bewohner Fische waren. Hier und da sieht man im Fels noch ihre Spuren.
Ein klatschendes Geräusch verrät den Biber, der mit seinem flachen breiten Schwanz ins Wasser sprang. Zwei entspannte Gänsesäger dürfen wir beim Schwimmen überholen. Die korpulenten braun-weiß-grauen Entenvögel nisten gern in kleinen Höhlen – ob in Bäumen oder Felsen. Manche der Naturskulpturen sind so dicht bewachsen, dass wir sie erst erkennen, wenn wir vorüberfahren. Die Ķūķu-Klippen sehen wir bereits von Weitem: Bis zu 43 Meter ragen sie direkt am Ufer in die Höhe.
So alt die bunten Steine alle sind: Die Form der Landschaft ist verhältnismäßig jung. Denn ihren letzten, maßgeblichen Schliff verpassten ihr die Eismassen der Weichsel-Kaltzeit, welche erst vor rund 10.000 Jahren endete. Flora und Fauna kehrten wieder. Den Tieren, die sie jagen konnten, folgten bald die ersten menschlichen Bewohner. Siedlungsspuren aus der Steinzeit finden sich in Lettland vielerorts – wie etwa im Dorf Āraiši.
Wasserburg mit Livemusik
Sobald die Paddeltour zu Ende ist und Marcis unser Kajak aufgeladen hat, bringt uns der nette Bootsverleiher mit dem Auto hin. Denn unser Ziel liegt auf dem Weg nach Cēsis, wo später außer Kunst und Kneipen auch ein malerischer Burg- und Schlossberg auf uns wartet. Lange residierte dort der Livländische Ordensmeister. Eine Nebenburg stand seit dem 14. Jahrhundert in Āraiši.
Von ihren einst zwei Meter dicken Mauern blieb nur wenig übrig. Heute ist der Burgberg mit der schönen Aussicht Teil eines Museumsparks wie auch Meitu Sala. Auf diesem Inselchen im Moor fand man viele tausend Jahre alte Artefakte, Werkzeug und Keramik. Anhand von Funden aus dem Umland rekonstruierte man diverse stein- bis eisenzeitliche Gebäude.
Zum Hotspot früher Nationalgeschichte macht den Ort jedoch die Wasserburg auf einer Sandbank im Āraišu-See. Die ursprüngliche Pfahlbausiedlung wurde ab anno 830 errichtet und bewohnt von alten Lettgallen, lettischer Urbevölkerung wie Liven oder Kuren. Die heutigen 15 Blockhäuser sind originalgetreue Nachbildungen.
Im Uferdickicht zwitschern Schilfrohrsänger. Entlang des Weges ist der See mit Teichrosen bedeckt. Die Inselburg bereits im Blick, tönt uns lebendige lettische Volksmusik entgegen. Am Eingang einer Hütte sitzen, singen, musizieren drei Frauen in der regionalen Tracht von Vidzeme. Es sind Dace, Līga, Ilva vom Ensemble „Dzieti“. An freien Tagen kommen sie nach Āraiši und lassen sich von dem geschichtsträchtigen Ort und seiner herrlichen Umgebung inspirieren.
Durchs Fernglas fliegt ein Kranichpaar. Kaum sichtbar durch das dichte Laub, blitzt in der Ferne kurz ein gelbes Kajak auf. Zusammen mit der Gauja, auf der es sich bewegt, verschwindet es in deren Urstromtal unter den buschigen und spitzen Mischwaldwipfeln. Und schon ist alles wieder grün in Lettlands „Mittelerde“.
Auf nach Lettland!
Anreise: Riga wird von verschiedenen Airlines aus dem deutschsprachigen Raum angeflogen, u. a. aus Düsseldorf, Hamburg, Köln/Bonn, München, Stuttgart. Mit dem Auto ca. 14 h (1350 km), weiter von Riga bis Cēsis 1,5 h, mit dem Linienbus ab Flughafen 2,5 h.
Unterkunft: Einfache Campinghütten 3 km von der Burg Turaida bietet Kempings Lejasbisenieki (https://lejasbisenieki.lv, Hütte für bis zu 4 Pers, 50 €). Das ethnografische Gästehaus Gungas besteht aus fünf rustikalen, komfortabel eingerichteten Blockhütten im Kiefernwald am See Dūňezers bei Ādaži unweit der Gaujamündung (https://gungas.lv, Zimmer ab 60 €, ganzes Haus ab 240 €).
Fahrrad: Wer im Gauja-Nationalpark radeln oder mountainbiken will, leiht sich am besten vor Ort ein Rad aus – etwa in Sigulda (https://ziedlejas.lv, pro Tag ab 40 €) oder Cēsis (www.elektroezi.lv, E-Bike 10 €/h, 25 €/Tag).
Kajak/Camping: Auf der Gauja sollte man für die 85 km von Valmiera bis zur Mündung etwa drei Tage planen. Lohnenswerte Tagesstrecken sind Līgatne – Sigulda (25 km) und Cēsis – Sigulda (45 km) oder Cēsis – Līgatne (30 km). An beiden Ufern Gauja gibt es Rast- und Campingplätze (www.jenculaivas.lv, Kajak 25 €/Tag, Floß 7,5 m x 3 m für bis zu 15 Pers. 250 €/Tag, Zeltplatz p. P. inkl. Brennholz 9 €, Zelt 10 €, Campinghütte mit 3 Betten 50 €).
Sehenswürdigkeiten:Turaida-Museumsreservat mit Burg Treyden in Sigulda (https://old.turaida-muzejs.lv, 6 €). Ordensburg und Neues Schloss mit Museum in Cēsis (https://cesupils.lv, ganzer Komplex 10 €). Archäologischer Park Āraiši (www.araisi.com, 5 €), der auch originelle ländliche Gästeunterkünfte vermittelt – wie z. B. das Saunahaus der historischen Windmühle.
Auskunft:www.latvia.travel/de, www.entergauja.com, https://visit.cesis.lv







