Regisseur und Bühnenbildner Ersan Mondtag lässt in einer nachgebauten Wohnung - deren Einrichtung an die DDR erinnert - den Alltag einer Gastarbeiterfamilie nachspielen und zieht Parallelen zu Ostdeutschland. Auch die Kulturhauptstadt Chemnitz ist in Venedig präsent.
Kunst.Damit Kinder und Enkel zu seiner Beerdigung in die Türkei fliegen, hatte Hasan Aygün Geld zur Seite gelegt. In einem Dorf östlich von Ankara geboren, ging er 1968 zum Arbeiten nach West-Berlin. Kurz nach seiner Pensionierung verstarb er an einer schweren Lungenerkrankung, die auf das Einatmen von Asbest zurückzuführen war. Sein Enkel Ersan Mondtag, geboren 1987, ist heute erfolgreicher Regisseur und Bühnenbildner. Für den Mitte April eröffneten Deutschen Pavillon auf der 60. Kunstbiennale in Venedig hat er sich erstmals künstlerisch mit seiner Familiengeschichte auseinandergesetzt und diese mit der Geschichte Ostdeutschlands verknüpft.
Ein Haus im Haus
Mitten in der monumentalen Architektur des Pavillons steht ein zweistöckiges Gebäude mit kleinen Fenstern. Ein Text erinnert an den Großvater, in einer Vitrine liegt dessen Portemonnaie. Blumenkästen von "Eternit" stehen für die Firma, bei der er über 25 Jahre gearbeitet hat. Eine Wendeltreppe führt in eine enge Wohnung: eine Küche mit Durchreiche zum Fernsehzimmer, grün gefliestes Bad, ein kleines Doppelbett. Eine ästhetische Reise in die Zeit vor 1990. Es riecht nach Arbeit und Schmutz, über allem liegt Staub.
Regelmäßig wird die verlassende Bleibe zur Bühne: Eine fünfköpfige Familie geht ihrem Alltag nach - ein Mann steigt nackt in Unterhose und Blaumann, seine Frau geistert mit Kittelschürze und Kopftuch durchs Haus. Das Publikum kommt den Schauspielenden auch in den intimsten Momenten nah: Das Paar liegt im Bett, die Tochter benutzt die Toilette. Dann klingelt das Wandtelefon. Ein Schrei erfüllt den Pavillon. Der Großvater ist tot. Nackt liegt er zusammengerollt auf dem Dach des Häuschens - eines der berührendsten Bilder der gesamten Biennale. Die Familie erweist dem Toten die letzte Ehre, wäscht ihn und hüllt ihn entsprechend dem islamischen Beerdigungsritual in ein Leinentuch.


Schon Bertolt Brecht forderte in seinem Gedicht "Anleitung für die Oberen", analog zu den unbekannten Soldaten auch die unbekannten Arbeiter zu ehren. Mondtag hat in diesem Sinne nicht nur das Schicksal der Gastarbeitenden im Westen, sondern auch das Leben der Arbeitenden in der DDR im Blick. Zwischen ihnen gäbe es viele Parallelen. So würden etwa ihre Biografien im westdeutsch geprägten historischen Diskurs zu wenig gewürdigt.
Gesten der Anerkennung
Als Geste der Anerkennung ostdeutscher Lebensleistungen brachte Mondtag abgenutztes Fischgrät-Parkett aus einem Eisenbahner-Klubhaus im brandenburgischen Kirchmöser in den Pavillon nach Venedig. Für Insider eine gelungene Anspielung auf den Künstler Hans Haacke. Der hatte 1993 die Steinplatten des Bodens im Deutschen Pavillon herausgeschlagen und ineinander geschichtet. Es war die erste Biennale nach der deutschen Wiedervereinigung und Haacke erklärte damals, sein Eingriff ließe sich durchaus als Trümmerfeld des Ost-West-Verhältnisses lesen. Aber wirklich Thema war der Osten Deutschlands im Pavillon noch nie.
Dass Ersan Mondtag den nicht geschriebenen Kapiteln der ostdeutschen Geschichte Präsenz verleihen will, ist erfreulich. Doch sein Anliegen löst sich leider nur nach der Lektüre der Begleittexte und dem zweiten Blick in der Theaterwohnung ein: Im Bücherregal stehen Christa Wolf und Lyrik der DDR. Die Kleidung ist an Schnittmuster aus der DDR-Zeitschrift "Pramo" angelehnt und die Durchreiche typisch für DDR-Plattenbauten. Ersans Großvater wird zudem von Frank Büttner dargestellt. 1960 in Ost-Berlin geboren, war der als junger Mann Facharbeiter für Eisenbahnbautechnik.
Weitere Lesart aus dem Osten
Seit 1990 haben mit Olaf Nicolai und Thomas Scheibitz erst zwei in der DDR geborene Künstler im Pavillon ausgestellt. Neben Mondtag hat Kuratorin Çagla Ilk nun noch fünf weitere Künstler und Künstlerinnen eingeladen, für den deutschen Beitrag alternative Lesarten von Geschichte und Zukunft zu entwerfen. Dabei ist auch Robert Lippok - ein Ostdeutscher. 1966 geboren ist Ost-Berlin, gründete er in den 80er-Jahren mit seinem Bruder die Band "Ornament und Verbrechen". In Venedig hat er auf der Insel La Certosa eine Soundarbeit entwickelt, in die auch Aufnahmen aus dem Deutschen Pavillon eingeflossen sind. Eine Achtsamkeitsübung auf der Schwelle in die Zukunft, die für Çagla Ilk mit Zuhören beginnt.
"Begehungen" präsentieren Fotografien
Einen Blick in Vergangenheit wie Zukunft ermöglicht zudem eine Ausstellung zu ostdeutscher Fotografie, die die Brücke von der Kunstbiennale in Venedig zum Kulturhauptstadtjahr 2025 in Chemnitz schlägt. Unter dem Titel "Anleitung zum Sehen" werden Arbeiten der Fotografen Margret Hoppe, Oskar Schmidt und Edgar Leciejewski gezeigt, allesamt Meisterschüler von Timm Rautert an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig. Hoppes Serie "Die verschwundenen Bilder" widmet sich Wänden, an denen einst Auftragskunst der DDR prangte.
Die Kunst hängt im Pavillon "Desire Lines", den sich das Chemnitzer Kunstfestival "Begehungen" abseits des offiziellen Biennale-Programms mit zwei Partnern aus England und Italien teilt. Einerseits solle dabei die Spitzenklasse ostdeutscher Fotografie gewürdigt werden, die international gesehen meist im Schatten der Düsseldorfer Kunstakademie stehe, erklärte Kuratorin Kristin Dittrich. Zum anderen knüpfe die Schau an das Motto von Chemnitz als Kulturhauptstadt Europas 2025 an. Mit "C the Unseen" soll dann bisher Ungesehenes in den Fokus rücken. |mit dpa
Die Kunstbiennale in Venedig dauert bis zum 24. November. So lange ist auch der Deutsche Pavillon geöffnet. Der Beitrag der "Begehungen" im Pavillon "Desire Lines" ist bis 30. Juni zu sehen.

