Beleidigungen, Vorurteile, Geldsorgen: Warum in Sachsen so wenige Frauen in Parlamenten sitzen
Sachsen hat bundesweit den geringsten Frauenanteil in Gemeinderäten. Das liegt nicht am Geschlecht, sondern am Ehrenamt, denkt Marion Dick, Bürgermeisterin im Vogtland.
Heinsdorfergrund/Dresden.In Marion Dicks Kalender steht für jeden Abend dieser Woche ein Termin: Mal tagt der Gemeinderat oder einer der drei Ortschaftsräte, an anderen Tagen lädt der Heimatverein ein. Ab und zu besucht sie Goldene Hochzeiten oder runde Geburtstage in ihrem Ort. Was eine Bürgermeisterin eben umtreibt.
Bis zu 30 Stunden in der Woche ist sie als Oberhaupt der vogtländischen Gemeinde Heinsdorfergrund unterwegs. „Aber für mein Dorf bin ich rund um die Uhr ansprechbar“, sagt die 63-Jährige. Sie ist parteilos, will sich nicht bundespolitisch positionieren müssen. Für ihre Wahl stand sie zweimal auf der Liste der CDU.
Eine Frau als Bürgermeisterin ist in Sachsen eine Seltenheit: Im Freistaat heißen fast so viele Bürgermeister mit Vornamen Frank (14) und Thomas (27) wie Frauen, die dieses Amt bekleiden (50). Jedes achte lokale Oberhaupt ist weiblich. Bundesweit gehört Sachsen damit zu den Schlusslichtern. Marion Dick reagiert darauf mit einem Schulterzucken. Dass sie das Amt ehrenamtlich ausübt, hält sie für das größere Problem. Eine Studie des Sächsischen Ministeriums für Justiz und Gleichstellung zeigt: An der Mischung aus „Frau“ und „Freizeit“ hakt es.
Nicht das Geschlecht fehlt, sondern die Perspektive
In Marion Dicks Gemeinderat sitzen zwölf Personen, drei davon sind Frauen. 25 Prozent, damit ist Dick zufrieden: „Immerhin werden manche Gemeinden nur von Männern geführt.“ Sie erlebt die „Mädels“ als fleißiger, durch die Übung im Familienalltag organisierter. Sie würden Entscheidungen länger abwägen, um das Beste für das Dorf zu tun.
Die meisten Abgeordneten in deutschen Parlamenten ähneln sich: Sie sind männlich, in Deutschland geboren, zwischen 30 und 60 Jahren alt, haben keine Behinderung. Dadurch fehlen andere Sichtweisen auf das Leben in der Region, argumentiert die Studie des Landesministeriums. Die Bundesstiftung Gleichstellung geht noch einen Schritt weiter: Ohne Frauen im Parlament hätte sich für die weibliche Hälfte der Gesellschaft bisher kaum etwas verbessert. Nur weil sich Frauen in der Vergangenheit über Fraktionen hinweg zusammenschlossen, konnten Schwangerschaftsabbrüche teils erlaubt oder Vergewaltigungen in der Ehe verboten werden.
Auf kommunaler Ebene betrifft die weibliche Perspektive zum Beispiel den Straßenverkehr: Frauen gehen statistisch gesehen mehr zu Fuß oder fahren mit dem Fahrrad. Ihre Bedürfnisse auf und an der Straße sind andere. In den Parlamenten würden sie sich deswegen eher für Laternen als für weitere Straßen einsetzen, so die Organisation „Frauen aufs Podium“.
Mütter sind besonders selten vertreten
Vor allem kinderlose Frauen oder Mütter, deren Kinder bereits ausgezogen sind, entscheiden sich für eine Kandidatur. So wie Marion Dick. Ab 1990 saß sie im ersten Gemeinderat, dann kamen die Kinder. Erst, als diese aus dem Haus waren, ließ sie sich 2012 als Bürgermeisterkandidatin für die CDU aufstellen. „Ich weiß nicht, ob ich das gemacht hätte, wenn sie noch da gewesen wären“, sagt sie. Dick beobachtet, dass für viele Frauen ihre Mutterrolle Vorrang hat und sie deswegen zögern. „Männer machen einfach“, auch wenn sie Väter sind.
Männer machen Politik, Frauen den Haushalt: Dass diese Rollenbilder noch immer vorherrschen, zeigen Untersuchungen über die Zeitverwendung von Vätern und Müttern in Ostdeutschland. Gemeinderäte sind Ehrenamtler, doch Mütter haben durchschnittlich 20 Minuten weniger Freizeit pro Tag als Väter. Hinzu kommt die Geldfrage: Etwa anderthalb Stunden sind Mütter weniger in ihrem Job beschäftigt als Väter. Stattdessen übernehmen sie unbezahlte Aufgaben wie Kochen, Putzen oder die Kinderbetreuung. Väter und Mütter arbeiten etwa gleich lange, Männer werden jedoch für mehr davon bezahlt.
Angefeindet und belästigt
Marion Dick sieht die größten Hürden für ihr Amt aber nicht zu Hause: „Ich bin keine Autoritätsperson, sondern ein fleißiger Arbeiter“, sagt sie. Statt sich wie ein „guter Chef“ durchzusetzen, versuche sie, die Probleme vor Ort im Gespräch mit allen Beteiligten zu lösen. Vielleicht ist das weiblich. Vielleicht ist es einfach ihre Art.
Kompromisse zu finden, offen zu bleiben, das kostet Kraft. 2021 gab Dick ihren Beruf als Bauamtsleiterin in der Nachbarkommune Neumark auf, um ihr gewähltes Amt als ehrenamtliche Bürgermeisterin weiter ausüben zu können. Wenn sie davon spricht, wird ihre Stimme rauer. „Das war eine Notbremsung, ich war am Limit“. Das Dorf im Stich zu lassen, kam für sie nicht in Frage.
Die Politik bringt immer mehr Aktive an ihre Grenzen, wie die CDU-Abgeordnete und Bundestagsvizepräsidentin Yvonne Magwas, ihren Parteikollegen Marko Wanderwitz oder den Landrat Dirk Neubauer. In der Studie des Landesministeriums schildern einige Frauen ihre Erfahrungen: „Man wird nur als Objekt gesehen“, wird eine Befragte zitiert. Abgeordnete hätten mit ihr geflirtet und seien ihr körperlich zu nahe gekommen. Anderen Frauen wird ihre Kenntnis bei traditionellen Männerthemen wie Finanzen oder Bauwesen abgesprochen. Zwischenrufe und Beschimpfungen seien Alltag. Eine bundesweite Studie zeigt, dass sich ein Drittel der angefeindeten Kommunalpolitikerinnen stärker zurückzieht. Damit fehlten den Parlamenten noch stärker die verschiedenen Blickwinkel auf ihre Region.
„Von allein holst du niemanden aus der Küche raus“
Bis 2019 saß in Marion Dicks Gemeinderat nur eine Frau. Dass sie seit diesem Jahr zwei weitere begrüßen kann, war harte Arbeit. „Von allein holst du niemanden aus der Küche raus“, sagt sie. „Vor der Wahl habe ich viele Leute im Ort angequatscht.“ Dabei hat sie sich auf aktive Vereinsmitglieder konzentriert.
Lokale Vereine und Initiativen schaffen den Zugang in die Kommunalpolitik: Einer bundesweiten Studie zufolge sind 86 Prozent der Mandatsträgerinnen auch zuvor schon in der Zivilgesellschaft engagiert. Das Landesministerium will dort ansetzen und sowohl Vereine als auch deren aktive Frauen unterstützen. Auch Kinder sollen früh schätzen lernen, sich in ihrer Kommune zu beteiligen. Die Autoren schlagen vor, Kinder- und Jugendbeiräte einzuführen. In Heinsdorfergrund gibt es bereits seit der ersten Amtszeit von Marion Dick einen Kindergemeinderat.
Man müsse aber nicht nur mehr Frauen ansprechen, sondern auch die Hürden für ein kommunales Ehrenamt senken, fordern die Frauen in der Studie des Landesministeriums. Vorgeschlagen werden beispielsweise hybride Sitzungen oder Kinderbetreuung während Besprechungen. Ein weiteres Hindernis ist die geringere Arbeitszeit: Weil viele kommunale Ehrenamtliche durch ihr Amt weniger arbeiten, büßen sie nicht nur Gehalt, sondern auch Rentenpunkte ein. Die Studienautoren schlagen vor, dass Arbeitgeber einen Ausgleich gezahlt bekommen, wenn sich ihre Mitarbeiter für ihre Gemeinde einsetzen. Bei Schöffen oder freiwilligen Feuerwehrleuten ist das bereits gängige Praxis.
Statt die Hürden für ein Ehrenamt zu senken, würde Marion Dick Kommunalämter fair entlohnen. Bisher wird der Aufwand finanziell entschädigt, Marion Dick erhält nach eigenen Angaben rund 2000 Euro für ihr Amt als Bürgermeisterin. „Für das Geld würde kein Chef mit so viel Verantwortung früh aufstehen“, sagt sie. In drei Jahren wird in Heinsdorfergrund ein neuer Bürgermeister gewählt. Dick hofft, dass sich trotz des wenigen Lohns und der teils geringen Wertschätzung jemand findet, der sie ablöst. Ob Frau oder Mann, ist ihr egal. „Hauptsache, es geht weiter.“ (schöj)