Als Radprofi hasste Olaf Ludwig die Berge. Heute kann man ihn ausgerechnet für den Stoneman mieten, der hinauf und hinab durchs Erzgebirge führt. Warum tut er das? Und was lernt man von einem, der mehr Rad gefahren ist als die meisten Menschen auf der Welt?
Olaf Ludwig schiebt sein Fahrrad die Einfahrt seines Hauses hinunter. Das Rad sieht genauso aus wie er: rot, schwarz und ziemlich sportlich. Olaf Ludwig, der einmal der Schnellste von allen war, sieht aus wie die anderen Rennradfahrer draußen, auf den Nebenstraßen und Radwegen. Bei denen alles von oben bis unten schön zusammenpasst. Die Kleidung, das Rad, die Brille.
Ludwig gewann in der DDR zweimal die Friedensfahrt, war Olympiasieger im Straßenrennen 1988 und gewann bei der Tour de France das Grüne Trikot des besten Sprinters. Er war der einzige Tour-de-France-Star, den die DDR jemals hatte. Nur einmal fuhren DDR-Sportler mit durch Frankreich, im Wendejahr 1990. Ludwig gewann damals eine der ersten Etappen, und in den Jahren darauf, als die Mauer weg war, gewann er noch zwei Etappen.
Er besaß Waden aus Stahl, ein breites Lächeln und war ein Star im Osten. Es ist so lange her, dass die Erinnerungen beinahe schwarz-weiß sind. Heute kann man ihn für Radreisen mieten.
Olaf Ludwig hat grob gerechnet, wie viele Kilometer er in seinem Leben gefahren ist. Eine halbe Million mindestens. Vielleicht 650.000. Was lernt man von einem, der mehr fuhr als die meisten Menschen auf der Welt? Die Idee war, mit ihm eine Runde durch seine Heimatstadt Gera zu fahren und genau das herauszufinden.
Während er zehn-, fünfzehnmal mit dem Rad die Welt umkreiste, hat sich der Radsport verändert. Seit Corona und der Erfindung des E-Bikes fahren so viele Deutsche Fahrrad wie nie. Radwege sind vollgestopft, Fahrräder Statussymbole und Sonntagsrunden unter Gleichgesinnten eine neue Form von Kaffeeklatsch. Trotzdem ist Deutschland keine Radsportnation. Es gibt keinen deutschen Star mehr. Der letzte Star, den alle kannten, war Jan Ullrich, der 1997 die Tour de France gewann und später alle enttäuschte, weil er des Dopings überführt wurde. Jetzt fahren die Deutschen lieber selbst, statt anderen zuzuschauen.
Radsport ist zum volkseigenen Sport geworden. Auf Wunsch kann man Stars von gestern buchen. Die Geschichte des deutschen Radsports ist auch Olaf Ludwigs Geschichte. Es ist die Geschichte eines mühsamen Aufs und plötzlichen Abs.
Vom Eddy Mercks des Ostens zum König der Cappuccino-Gruppe
Ludwig ist 64, hat immer noch Stahlbeine und ist braungebrannt. Er kommt gerade von einer zweiwöchigen Radreise aus Bulgarien, Sandanski, was im Südwesten liegt, nicht weit weg von Griechenland. Die Teilnehmer waren zwischen 50 und 70 und kannten ihn von früher. Er war ihr Idol. Der Olaf. Der Eddy Merckx des Ostens. Ludwig hat sich einen neuen Spitznamen gegeben: König der Cappuccino-Gruppe. Dann wisse jeder sofort, wie er heute drauf ist. Es wird nicht gebummelt, aber auch nicht gehetzt. Seine Tagesetappen sind selten länger als 100 Kilometer. Dort liegt seine Spaßgrenze mit dem Rennrad. Er will zwischendrin schön Cappuccino trinken und ein, zwei Bier am Ende des Tages. Energieriegel können die anderen essen.
Es regnet nicht und der Himmel sieht zum Glück nicht so aus, als käme bald was.
Olaf Ludwig fährt nur bei Sonne und zweistelligen Temperaturen. „Ich bin das absolute Weichei geworden“, sagt er. Aber warum nicht? Ihn zwingt niemand. Täve Schur, die Legende seiner Kindheit, sei das Gegenteil von ihm. Täve ist 93 und fahre immer noch zweimal pro Woche 30, 40, 50 Kilometer, er weiß es nicht genau, aber jedenfalls Sommer wie Winter. Er treffe Täve einmal im Jahr beim „Sportler des Jahres“ und bestelle ihm hin und wieder über Wolfgang, einen gemeinsamen Freund, schöne Grüße.
Schon als kleiner Junge schob er sein Rad hier runter. Das Haus in Gera, in dem er lebt, ist sein Elternhaus. Es hat groben, hellen Putz und einen großen Garten mit viel Wiese. Nebenan führt ein Radweg in den Wald. Olaf Ludwig wohnte lange in Aachen und kehrte 2015 zurück. Seine Frau blieb im Westen. Heike und er hatten sich auseinandergelebt nach fast vierzig Jahren. Heute wohnt Ludwig hier mit Olga, einer Bergführerin aus Bulgarien. Sie trafen sich auf einer seiner Radreisen in Bulgarien.


Seine Schuhe klacken, als er vom Grundstück läuft. Er schwingt sich in den Sattel und tritt gemütlich an, vorbei an der Kirche, den Berg hinunter Richtung Weiße Elster. Und dann kommt sein erster Befehl:
„Ruhiger!“
Und dabei wollte man doch gut aussehen.
Ludwig sagt, man müsse sich Folgendes vorstellen: Vor jeder Tour besitze man einen Sack mit hundert Körnern. Jedes Korn bedeutet Kraft. Auf die Körner müsse man aufpassen. Wenn sie alle sind, hat man Pech. Ludwig sagt, er achte darauf, dass die Leute bei ihm was lernen. Das mit den Körnern könne sich jeder vorstellen.
Nach den ersten Kilometern zieht er die Weste aus, knüllt sie zusammen wie einen Stoffbeutel und stopft sie in die Tasche hinten am Trikot.
Der Stoff ist eine Wissenschaft für sich. Es ist mehr als nur Lycra. Es soll irgendwann Stoff geben, der die Körpertemperatur um ein Grad Celsius senkt. Man bräuchte weniger Energie zum Kühlen und könnte mehr in die Beine stecken. Das Trikot muss sitzen. Falls es etwas zu weit oben am Bizeps endet, ist die Aerodynamik schlechter. Der ganze Radsport sei heute eine Wissenschaft, sagt Ludwig.
Aber was ist mit den großen Gefühlen? Dem Gespür für den Moment, wann man die Pedale ziehen muss? Wann man schaltet? Olaf Ludwig interessiert sich nicht besonders für die Kleidung.
„Viel zu großer Gang! Nimm ein Damenrad, wenn du schaltfaul bist! Jetzt sind sinnlos zwei Körner aus dem Sack gefallen“, sagt Ludwig.
Er lächelt breit. Er hat es geahnt. Die halbe Welt fahre mit großen, schweren Gängen durchs Land und verschwende Körner. Sobald er Lycra trägt und auf dem Rad sitzt, verwandelt er sich in einen sehr authentischen, sehr fröhlichen Typen.
Vorhin saß er in seinem Esszimmer und klang ein wenig enttäuscht von der Welt. Er saß am großen Marmortisch, lehnte in einem der grauen Polstersessel und erzählte, dass dem deutschen Radsport nicht bloß die Stars fehlen. „Wir sind eine Nation, die den Erfolg und den Skandal mag. Sind wir im Fußball gut, werden alle zu Fußballfans. Sind wir in der Formel 1 gut, gucken alle Autorennen.“ Ludwig setzte seine Reihe fort. Tennis, Boxen, Fußball. Sobald es nicht mehr läuft, verschwinden die Fans in Scharen und suchen sich was Neues. Mit den Fans verschwinden die Medien und ziehen der Karawane hinterher. Auf einem Schränkchen des Esszimmers steht ein großes Bild, das ihn und sein Olympiasiegerrad von 1988 zeigt. Ein Idol aus einem fernen Land.
Als er zwölf war, führte die Friedensfahrt durch Gera. Olaf Ludwig stand am Straßenrand, so wie die ganze Stadt dagestanden hatte, Tausende jubelnde Menschen. Alte und Junge, Männer und Frauen. Danach wollte er unbedingt Radprofi werden. Er erzählt, dass er bewegungsfreudiges Einzelkind war. Vielleicht wäre er zum Fußball geschickt worden, hätten die Eltern noch zwei Jungs gehabt. Vielleicht wären nicht alle Augen auf sein Talent gerichtet gewesen.
Die Friedensfahrt war das bestvermarktete Sportereignis der DDR. Vor ein paar Jahren sollte Ludwig einem Journalisten die Friedensfahrt erklären. Ludwig erzählt die Geschichte wie einen Witz: „Ich hab ihn gefragt: Wie alt bist du? Woher kommst du? Er: 37, Mannheim. Ich: 37, Mannheim? Kann ich nicht, geht nicht!“ Auch den Witz versteht man nur, wenn man mal an der Straße gestanden hatte wie Ludwig damals. Der Journalist habe gedacht, dass die Menschen damals zum Jubeln an die Strecke gezwungen wurden. Er wusste nichts von den Friedensfahrt-Wandzeitungen, die die Kinder in der Schule bastelten. Er wusste nichts von der Hoffnung auf Weltfrieden, die jedes Mal mitschwang. Es ist schwer zu begreifen.
Wahrscheinlich hat der Westen die Friedensfahrt nie verstanden. Vielleicht hätte er sie sonst ernster genommen.
Mitte der Neunziger fuhr Ludwig im Schatten des 13 Jahre jüngeren Jan Ullrich im Team Telekom, das später T-Mobile hieß. Danach wurde Ludwig Pressesprecher des Teams, das damals sehr berühmt war. Ein Jahr lang war Ludwig sogar Teamchef. Als Ullrich im großen Dopingskandal um den Arzt Eufemiano Fuentes aufflog, veränderte sich der Radsport. 2006, zum Ende der Skandalsaison, musste auch Ludwig gehen. Ist er enttäuscht von Ullrich und all den anderen, die damals alle enttäuscht haben? „Die Sportler mussten damals für alles büßen. Dopingfreien Leistungssport wird es nie geben“, sagt Ludwig. Es ist weder ein Ja noch ein Nein. Er beschloss, näher an die Fans zu rücken. Seitdem kann man ihn buchen. Zusammen mit Jörg Strenger, der früher die Friedensfahrt organisierte, verkauft er Radreisen.
Zwei Stunden saß Ludwig im Esszimmer, redete über die alte Radsportwelt und die neue, die nicht mehr seine ist. Danach ging er nach nebenan und zog sich um. Er verwandelte sich in eine gestylte Lycra-Person, die endlich den Kopf frei hat.
„Was du mit dem Oberkörper machst, bringt dich nicht vorwärts“
Wir rollen und überholen ab und zu ein E-Bike. Die Orte heißen Bad Köstritz, Caaschwitz, Crossen an der Elster, Silbitz. Es geht vorbei am Edeka, an der Sportlerklause und dem Fahrradladen, mit dem Ludwig zusammenarbeitet. Er ist jetzt Markenbotschafter von Cube. Also fährt er Cube. Ein Flugzeug, wie er scherzt, weil was mit Aero im Modellnamen steht. Wie viel es wiegt, ist wahrscheinlich eine Laienfrage. Er macht sich keine Gedanken über das Gewicht von Fahrrädern.
„Mit den Daumen ordentlich greifen am Lenker!“
Der Daumen gehört nicht nach oben zu den anderen Fingern. Er klammert sich fest wie ein Äffchen, um es zu zeigen. „Da reicht ein Stein, und die Hände sind weg. Danach kann man schlecht aussehen. Vor allem im Gesicht.“
Ludwig beobachtet die meiste Zeit. So ist es mit ihm gemacht worden damals und so macht er es heute auf seinen Touren. Er will ja zeigen, wie man sein Körnersäckchen am besten aufteilt. Die meisten, die er trifft, fahren nicht ökonomisch. Aber man ist auch ein bisschen aufgeregt neben einem Olaf Ludwig.
Irgendwann kommt ein kleiner Berg. Er ist nicht besonders steil und nicht besonders lang. Aber an den Bergen muss man am meisten auf die Körner aufpassen. Er macht einen Buckel, wippt mit dem Oberkörper vor und zurück und japst einmal theatralisch. So wäre es falsch. „Was du mit dem Oberkörper machst, bringt dich nicht vorwärts. Dich bringen nur deine Beine vorwärts. Wenn dein Körper keinen Sauerstoff bekommt, treten deine Beine nicht“, sagt Ludwig.
Er sagt: „Einmal, zweimal den Körper aufrichten in der Serpentine. Und dann durchatmen, damit Luft in die Lungen fließt.“
Er geht aus dem Sattel. Man könnte am Berg hin und wieder aufstehen und den Arsch entlasten, sagt er, um aus der Monotonie herauszukommen.


Er war nie der Mann, der gut über die Berge kam. Er war schon immer zu schwer für die Berge. Er litt, wenn er hochmusste. Jetzt ist er Botschafter für den Rennrad-Stoneman, einer Radpilgerstrecke, die 300 Kilometer durchs Erzgebirge führt und jeden Berg mitnimmt. Wie kommt ausgerechnet er dazu?
„Ich bin schon ein bisschen berghoch gekommen“, sagt Ludwig. Er war damals schon zehn Jahre mit Radreisen im Geschäft, als man ihn 2017 für den Stoneman Miriquidi Road haben wollte. Die Tour war neu und brauchte ein Gesicht. Olaf Ludwig hatte ein Gesicht. Er war ein Gesicht. Er war es gewohnt, Botschafter zu sein.
Während der Ex-Profi Ludwig einen Gang heruntergeschaltet hatte, schalteten die Volkssportler einen Gang hoch. Ludwig will kleinere Runden fahren, sie größere. Genau damit spielt auch der Stoneman. Mit den großen Runden. Man sammelt Steine in Gold, Silber und Bronze. Wer sich drei Tage Zeit nimmt statt einen, bekommt den Bronzestein. Aber Ludwig sammelt kein Gold mehr. Bronze, sagt Ludwig, passe in sein Cappuccino-Konzept. Ende Juni wird er wieder eine Cappuccino-Gruppe anführen. Fichtelberg, Keilberg, 5000 Höhenmeter in drei Mahlzeiten. Olga fährt mit. Weil Olga mitfährt, fahre auch eine andere Frau mit. Man kennt sich inzwischen. Abends erzählt Olaf Ludwig Geschichten von früher, und manchmal tauschen sie Nummern aus, sehen sich in Bulgarien wieder, auf Mallorca, auf Rügen. Olaf Ludwig ist beim Stoneman das Gesicht der Entschleunigung.
„Vor der Kurve schalten. Wieder zwei Körner weg!“, ruft Ludwig.
„Und beim Umdrehen: großmachen, Hand aufs rechte Bein, Hüfte drehen. So kommt man viel weiter rum, vor allem in meinem Alter.“
An der Weißen Ester führt ein schmaler, glatter Radweg entlang. Ludwig zeigt auf eine Stelle, wo vor kurzem ein Schwan gebrütet habe. Vor ein paar Tagen schlüpften die Jungen. Sechs Stück, er hat fotografiert, wie sie hinter der Mutter schwammen.
Olga arbeitet im Garten, als wir von der kleinen Cappuccino-Tour zurückkommen. Sie kommt an den Zaun und fragt, wie es gewesen sei. Olaf könnte erzählen, dass der Schwan nicht zu sehen war. Dass irgendwo auf der Strecke eine Baustelle ist. Er sagt: „Zu großer Gang. Das Übliche.“
Die Stoneman-Road-Days finden vom 20. bis 22. Juni als geführte Touren durchs Erzgebirge statt.