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Wie das Steigerlied Fußballvereine vereint

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Unser Autor hat in Fankurven schon viel Unschönes erlebt: Schmähgesänge, Fäuste, Mittelfinger. Doch dann kam dieser Moment im Erzgebirgsstadion.

Aue.

Die erste Reaktion: Abneigung. Die zweite: Lautstärke. Die dritte: Schmähgesänge, Fäuste in der Luft, vereinzelt gar Mittelfinger. Man darf nicht alles auf die Goldwaage legen, was sich vor, während und nach einem Fußballspiel in den Fankurven der Vereine abspielt, die sich unten auf dem Feld gerade gegenüberstehen.

Fußball ist dann vor allem ein Ventil, ein einfaches Spiel, das auf geradezu groteske Weise Woche für Woche völlig überhöht wird. Erwachsene Männer, die besonders feinfühlig einen Ball mit dem Fuß berühren können, sind plötzlich Helden. Traurige Pechvögel, denen ein Fehler unterlaufen ist, werden bisweilen angefeindet. Haben sie das besondere Pech, mit einem Körperteil als letztes das Spielgerät berührt zu haben, das danach im eigenen Tor landet, wurden Spieler in Kolumbien - so tatsächlich einst geschehen - sogar schon umgebracht. Aber Fußball ist auch Identität, Leidenschaft, Emotion. Manche Familienväter, hört man ihre Ehefrauen erzählen, hätten bei den Geburten ihrer Kinder keine Tränen vergossen. Wohl aber, als der geliebte Fußballclub absteigen musste. Fußball ist daher auch oft: nicht zu erklären.

Und wer nie Teil einer solchen Kurve war, wer die besondere Faszination dieser totalen Hingabe nie erleben durfte, dem fehlt nicht nur eine ordentliche Portion Lebenserfahrung, nein, der wird all diesen Zirkus, der sich rund um einen Spieltag abspielt, auch nie verstehen.



Manchmal aber, da passieren im Stadion noch Dinge, die dann selbst die hartgesottenen Anhänger, diejenigen, die schon immer da waren, erstaunen oder gar berühren. Dinge auf dem Rasen, wie sie etwa Lionel Messi vorbehalten sind. Dinge auf der Tribüne, wie sie auch in der Dritten Liga ganz plötzlich passieren.

Einen solchen Moment, den gab es im vergangenen Heimspiel des FC Erzgebirge Aue gegen Rot-Weiß Essen zu beobachten. Der Gästeblock, dessen Betongrau Woche für Woche wie eine stumme Anklage, eine traurige Erinnerung dafür steht, dass Aue derzeit nicht da ist, wo es nach eigenem Selbstverständnis hingehört, war endlich mal wieder gut gefüllt: Fast 1000 Essener waren mit ins Erzgebirge gefahren, um ihre Mannschaft farbenfroh, fröhlich und lautstark mit einer Vielzahl an Fahnen zu unterstützen. Die erste, erwartbare Reaktion der Heimfans: Abneigung; kaum trauten sich die Gäste, das erste Mal ihre Mannschaft zum Aufwärmen lautstark zu begrüßen, gellten von den Fans gegenüber Pfiffe durchs Erzgebirgsstadion, dass das Trommelfell gleich mit pfiff. Die zweite Reaktion: dagegenhalten! Umso lauter wurden also die Veilchen-Fans, als ihre Spieler erstmals den Rasen betraten. Und dann, je näher die Partie rückte, immer ein Gegenangriff, sobald sich die Rot-Weißen Essener trauten, Fahnen in den Wind zu halten und Sprechchöre anzustimmen: Schmähgesag, Fäuste in der Luft, vereinzelt gar Mittelfinger. So wie später auf dem Feld, so gaben auch die Fangruppen keinen Millimeter ohne Kampf preis, man sah förmlich die lila-weißen und rot-weißen Schallwellen, wie sie auf Höhe der Mittellinie etwa in der Luft aufeinandertrafen, sich malträtierten, boxten, gegenseitig zu Boden zwangen und auch dort noch nicht aufgaben, sondern ineinander verkeilt, wild wälzend in den Rasenhalmen verschwanden.


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So lang ging dieses Schauspiel, bis die Stadionregie - wie bei jedem Heimspiel des FC Erzgebirge - das Steigerlied über die Boxen schickte. Eine Hommage an die Tradition, an die Historie, an so viele Kumpel, die in dieser Stadt, dieser Gegend mithalfen, sich immer tiefer ins Gestein zu arbeiten, deren Schweiß bis heute in den Schächten und Hügeln des Erzgebirges steckt - genauso wie in der Leidenschaft für ihre BSG Wismut. Was nun geschah, war episch: Die Schallwellen, losgeschickt aus beiden Kurven mit soviel Inbrunst und Feindseligkeit, so schien es, schienen urplötzlich auf dem Weg zur Mittellinie innezuhalten. Einfach stehen zu bleiben. Sich umzugucken. Beide Kurven, sie sangen nun gemeinsam die ersten Worte, die ersten Zeilen, die ersten Töne, die Melodie.

Die Schallwellen, sie fanden sich nun in der Mitte, sie umarmten sich fast, sie begannen, in einem beeindruckenden Gleichschritt Tempo aufzunehmen und das gesamte Rund gemeinsam mehr und mehr zu erfassen: Glückauf, Glückauf, hallte es, der Steiger kommt; und er hat sein helles Licht bei der Nacht... Auch auf der Tribüne, sogar dort, wo die Presse sitzt, erhoben sich die ersten Menschen von ihren Sitzschalen und sangen mit. Wie eine Welle, die die Tribüne flutete und alles mitriss, was dort stand, saß oder kauerte. Es war für diesen Moment egal, welche Farben der Schal, die Kutte, der Hut hatte, sie alle fanden sich und ihre Gemeinsamkeit im Steigerlied, 144 Sekunden lang. Und es schien, als sängen all die Hügel und Schächte, vielleicht sogar der Himmel, ganz leise mit.

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