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Augustusburgs Bürgermeister Dirk Neubauer: "Wir dürfen nicht mehr ausgrenzen"

Augustusburgs Bürgermeister Dirk Neubauer (parteilos) spricht im Interview über fehlende Debatte und Diskussionkultur, Covid-Ex und seine Pläne für eine neue Gesprächsplattform.

Augustusburg.

Gerade aus der SPD ausgetreten, will Dirk Neubauer als parteiloser Kommunalpolitiker weiter für mehr Transparenz, Basis- und Bürgernähe im Land streiten. Doch wie will er Unterstützung mobilisieren? Der Augustusburger Bürgermeister im "Freie Presse"-Gespräch über den Lockdown-Ausstieg, die Stimmung und seine Pläne für die Stadt und die Demokratie.

Freie Presse: Ihre neue Streitschrift heißt: "Rettet die Demokratie!" Wie wollen Sie das machen, wenn Sie aus der Partei austreten?

Dirk Neubauer: Mitgliedschaft und Zusammenarbeit sind zwei Paar Schuhe. Alle Seiten wären gut beraten, den Faden jetzt aufzunehmen und wirklich was zu verändern. Ich glaube, dass man freier sein muss, als ich es war, um die Dinge klar auszusprechen. Denn die Zeit drängt. Im Hinterzimmermodus, in dem man die Dinge derzeit diskutiert, geht das nicht. Das machen wir jetzt seit Jahren. Es fehlt der Wille, Veränderung umzusetzen.

Was ist Ihr Gegenkonzept?

Wir brauchen wieder eine ordentliche Debatte und eine andere Diskussionskultur. Die haben wir nicht. Ich nehme gerade wahr, dass man in der Landespolitik wenig miteinander, aber wieder viel übereinander redet. Die Frage ist, ob wir so mit den Leuten ins Gespräch kommen, mit denen wir dringend ins Gespräch kommen müssen. Menschen, die sich ausgegrenzt fühlen, können wir nicht mit Ausgrenzung zum Dialog führen. Wir dürfen nicht mehr ausgrenzen. Dafür gibt es einfache Regeln: Wenn jemand gesprächsbereit ist und sich an Regeln des gegenseitigen Respekts hält, dann muss man die Diskussion führen. Wir aber heben den Zeigefinger. Mit denen redet man nicht, ist ein zulässiger, akzeptierter Satz. Dabei markiert das nichts weiter als Sprachlosigkeit. Ich stehe da sehr nahe bei unserem Ministerpräsidenten, der reden will und dafür gescholten wird. Pauschal verurteilt für eine Offenheit, die es als Angebot braucht. Weil es Radikalen den sicheren Boden der Ausgegrenztheit entzieht. Mehr Differenzierung bitte! Derzeit geht nur An oder Aus, keine Facetten mehr. Das macht es im Politischen sehr schwierig, Kompromisse zu erwirtschaften.

Wie findet man Kompromisse?

Ich denke über eine Plattform nach, ich nenne es bewusst nicht Partei. Eine Plattform, die einen überparteilichen Diskurs möglich machen soll. Ohne Ideologie. Bezogen auf Fakten und Probleme. Ob man das nach dem Vorbild der Runden Tische macht oder eine andere Form findet, werden wir sehen. Es ist wichtig, eine Kraft zu haben, die nicht rechts, nicht links ist, sondern präzise Themen behandelt. Da können Bürgerräte eine Rolle spielen, da muss ein breiter Querschnitt der Gesellschaft an einem Tisch sitzen. So etwas, was wir mit der Los-Land-Initiative wollen, Bürger repräsentativ und zufällig zu ermitteln und zu bestimmten Themen tatsächlich zur Debatte zu laden. Also darauf zu drängen, dass sie mitmachen. Das ist wichtig für Politik und Gesellschaft: Weil die Gesellschaft, die sich derzeit gerne Lösungen einfach wünschen möchte, so ein Gefühl dafür bekommt, wie schwierig das ist, die dafür nötigen Kompromisse auch auszuhandeln.

Fehlt es an der Bereitschaft zum Mitmachen?

Der Fehler liegt im politischen Orbit und bei uns, dem Auftraggeber: Wir beschweren uns immer häufiger, immer schneller über alles Mögliche, das nicht läuft, und erwarten, dass uns irgendwer etwas liefert. Aber so ist es ja nicht. Auch wenn Politik lange dafür gesorgt hat, dass es so scheint, muss man trotzdem anfangen, diesen Kreis aufzubrechen. Durch noch mehr Kümmern, Organisieren und Bestimmen werden wir das nicht hinbekommen. Jetzt muss alles auf den Tisch, an dem alle Platz nehmen können.

Ist das klassische Kümmern am Ende?

Ich denke für Dich, ich entscheide für Dich und ich bringe Dir Gutes. Also, sehet her und erwartet die Verkündigung. Am Ende erscheint der Landtagsabgeordnete mit dem Bewilligungsbescheid. Das hat schon fast religiöse Züge. Klar wird es immer die Initialzündung, die Idee brauchen. Und auch die repräsentative Demokratie. Aber wer sagt denn, dass die Idee immer aus der Politik oder aus dem Rathaus kommen muss? Was ich forcieren will für die nächsten Jahre ist, die Leute zum Mittun und Mitdenken zu bewegen und die Möglichkeiten zu schaffen, dass dies auch Ergebnisse haben kann. Das halte ich für die Aufgabe von Politik: Ermöglichung. Den Leuten zu sagen: Macht doch. Wir helfen. Aber dann muss ich auch das Versprechen halten können. Die Menschen wollen sich mehr beteiligen, sie wollen mitbestimmen. Und unser System ist dafür nicht gemacht.

Im Falle des Corona-Ausstiegsprojektes konnten Sie Ihr Versprechen den Geschäftsleuten gegenüber nur teilweise halten, weil nach dreieinhalb Wochen Schluss war.

Das war einer der traurigsten Momente in diesen Jahren hier, weil ich eine Aufbruch- und Hoffnungsstimmung gespürt habe. Alle waren dabei. Alle haben ihren Teil getan. Es war unglaublich schön, das zu sehen. Es sind alle ins Risiko gegangen und haben darauf vertraut, dass das schon irgendwie wird. Dabei hatte ich in den letzten Tagen, bevor das Projekt auf den letzten Drücker genehmigt wurde, weder das Gefühl, noch Gewissheit, dass es mehr Leute als uns gibt, die das wirklich wollen. Ich hatte wie meine Mitstreiter eher das Gefühl, dass man darauf wartet, dass wir umfallen.

Wer hat darauf gewartet? Haben nicht SPD-Minister Ihren Plan unterstützt?

Auf der einen Seite bin ich beiden SPD-Ministern, Petra Köpping und Martin Dulig, sehr dankbar, dass es beginnen konnte. Gleichzeitig zeigt sich aber, dass so ein sinnvolles Projekt dann doch im Parteienstreit noch sinken kann. Hinter uns stand nicht der Freistaat, so wie das jetzt in Schleswig-Holstein ist. Und nach dem Besuch von Martin Dulig in Augustusburg hat sich kein Vertreter von Land oder Bund dafür interessiert, wie das hier läuft. Das ist eine Form von Missachtung. Es war allen klar, dass es darum gehen sollte, eine Alternative zum Schließen zu finden. Für alle. Das ist ein relevanter Auftrag.

War es die Bundesnotbremse, die das Fass zum Überlaufen gebracht hat?

Meine Partei hat im Bund für den pauschalen Lockdown und gegen das Projekt entschieden. Gegen monatelange Eigeninitiative. Gegen einen unglaublichen Aufwand, den Menschen privat erbracht haben. Hunderte unbezahlte Stunden. Mit einer wissenschaftlichen Begleitung, die man einforderte, aber weder spezifizieren noch finanzieren konnte. Dazu haben wir bis heute das eigentlich zugesagte Geld nicht erhalten, das einen Teil refinanzieren sollte. Dann kommt der Punkt, an dem man auch zeigen muss: Bis dahin und nicht weiter. Das war der letzte Akt eines langen Weges. In der Sache war das Signal richtig, auszutreten.

Hat das Signal die erhoffte Aufrüttel-Wirkung?

Hier, in der Stadt auf jeden Fall. Und laut dem großen Echo bundesweit denken eine ganze Menge Leute ähnlich.

Was wird aus der Parteiendemokratie, wenn viele engagierte Köpfe nicht mehr Volkes Wille in die Parlamente tragen? Wie können sie sich einbringen?

Einbringen kann man sich immer. Jeder, der eine Idee und den Willen hat. Die Erkenntnis ist uns ein Stück weit abhanden gekommen. Aber Parteien haben es vermocht, sich von der anstrengenden Basis weitgehend abzuschotten. Nach wie vor meine ich, dass repräsentative Demokratie etwas tolles ist. Ich wüsste auch gar keine Alternative. Aber nach acht Jahren Innenansicht bin ich überzeugt, dass das System eine Generalüberholung braucht.

Warum fordern Sie diese Generalüberholung gerade jetzt?

Die Pandemie macht nur sichtbar, was lange schon da war: Wir leben in Veränderung. Die ganze Welt hat sich in kurzer Zeit komplett verändert. Digitalisierung. Klima. Andere Formen der Arbeit, der Meinungsbildung. Netzwerke, Algorithmen bestimmen den Kurs. Alles bleibt jeden Tag anders! Hinter Problemen formieren sich nun häufiger Sammlungsbewegungen, die gezielt Lösungen suchen. Das ist der Charakter unserer Zeit. Dagegen steht der starre Parteienapparat mit seinen Hierarchien und seiner unendlichen Langsamkeit. Den müssen wir anpassen auf die Bedürfnisse des 21. Jahrhunderts.

Wie anpassen?

Ich habe unter anderem den sehr alten Vorschlag der Amtszeitbegrenzung aufgegriffen. Wir brauchen mehr personelle Veränderungen, damit schneller Gedanken greifen können und Strukturen nicht verkrusten. Nicht diese ewigen Parteikarrieren. Dieses Ich-mach-das-schon-30 Jahre.

Wo sehen Sie Ihre neue politische Heimat?

Ich will mich nicht festlegen. Aber eine Verheimatung wird künftig für mich nicht das Entscheidende sein. Entscheidend wird sein: Wie bringt man Themen auf welchen Tisch und löst diese? Und da sind einige, darunter auch globale wie Klimawandel, Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit in Zeiten, in denen immer weniger Arbeit für immer mehr Menschen da ist. So, wie wir es jetzt machen, wäre jedes einzelne Thema geeignet, die Gesellschaft zu spalten. Wir müssen handeln. Das größte Potenzial sehe ich in der Einbindung der Kommunen. Der Austausch mit dem Bürger, das Verständigen auf gemeinsame Ziele, geht wohl am allerbesten hier. Egal ob Stadt oder Land.

Wird die Arbeit auf dem Land schwieriger, wenn Menschen auf dem Dorf immer weiter weg sind von Teilen der Infrastruktur?

Die großen Städte kennen unsere Probleme gar nicht. Wir hier hängen komplett am Tropf von Landes- und Bundesfinanzierung. Und wer am Tropf hängt, steht am Ende der Befehlskette. Eigentlich wollen wir den ländlichen Raum retten: Was wir tatsächlich tun, ist betreutes Sterben. Wir fördern zwar, lösen damit aber nicht wirklich grundsätzlich die strukturellen Probleme. Wenn wir aber den ländlichen Raum ernsthaft erhalten wollten, braucht es das Bekenntnis, für alle Heimat erhalten zu wollen. Jenseits der betriebswirtschaftlichen Rechnung, die uns sagen will: Alles zu teuer! Wir müssten an Mobilitätskonzepten arbeiten und Ideen für Schule und Versorgung entwickeln.

Aber was glauben Sie, in Augustusburg zu bewegen? Müssten Sie da nicht anderswo ansetzen?

Man muss nicht in der Landes- und Bundespolitik sein, um was bewegen zu können. In unserer Zeit der Entkopplung von Arbeit und Ort ist es völlig egal, wo ich sitze. Ich brauche kein Büro in Berlin, damit ich relevant bin.

Was ist Ihr eigener Plan nach der zweiten Amtszeit?

Wenn ich diese zwei Legislaturen absolviert habe, dann habe ich 14 Jahre die Geschicke der Stadt beeinflusst. Was soll ich in 21 Jahren schaffen, was ich in 14 Jahren nicht geschafft habe? Es wäre besser, wenn man eineinhalb Jahre vor Ende der Amtszeit mit dem Stadtrat anfangen würde, die Staffelstabübergabe zu planen. Bis dahin ist aber noch einiges zu tun.

Also halten wir fest: Sie wollen über Ihren Plan für die Zeit nach der zweiten Amtszeit nichts sagen.

Es wird Sie erschrecken: Ich habe keinen Plan. Es ist noch ein paar Jahre hin. Ich gehöre nicht zu den Menschen, die lange Jahre für sich planen.

Wäre die Landespolitik eine Option?

Ich habe immer gesagt, dass das nicht mein Weg ist, dass die Position eines Bürgermeisters in Zukunft eine der wichtigsten politischen Funktionen sein wird. Auf die kommunale Ebene wird viel mehr zukommen.

Gab es zwischen Ihnen und der SPD ein Zerwürfnis, nachdem Sie den Koalitionsvertrag mitverhandelt, aber dann in Augustusburg geblieben sind?

Nein, in Parteien freut man sich über jeden, der keine Karriere anstrebt.

Mit dem Blick zurück auf die Entscheidung, als Sie in die SPD eingetreten sind, als die Partei in der Krise nach Martin Schulz‘ Abgang war: Haben Sie etwas falsch gemacht?

Nein, ich habe keinen Moment bereut. Doch ich bin irgendwann an diesem Punkt nicht weitergekommen: Die kommunale Ebene zu stärken, wurde auch in meiner SPD immer mal als Überschrift ausgegeben, aber nur wenn es passte. Aber für den wirklichen Willen, Macht zu teilen und grundsätzlich andere finanzielle Regeln zu schaffen, hat sich nichts getan. Es bleibt bei Aktionen, sich in kleinen Sonderzahlungen zu erschöpfen.

Wo stehen Sie mit Ihrem Plan für eine Plattform?

Seit zwei Jahren stehe ich mit Demokraten aus vielen politischen Bereichen, aber auch beispielsweise aus der Wirtschaft in Kontakt. Es geht um einen gemeinsamen Nenner: Das ist die Sorge, dass die Gesellschaft auseinander bricht. Es ist unglaublich produktiv, über gemeinsame Lösungen nachzudenken. Die kommunale Säule ist eine davon. Sie fordert Mitmachen ein.

Welchen Spielraum haben Sie?

Wir hier haben sehr wenige Möglichkeiten. Gerade haben wir die Philharmonischen Konzerte und die Turmkonzerte in Augustusburg auch für dieses Jahr finanziert. Das ist gerade viel Geld, aber unendlich wichtig. Nachdem wir im Stadtrat auch beschlossen haben, Kredite aufzunehmen, wird es harte Diskussionen mit der Kommunalaufsicht geben. Dabei haben alle gewählten Vertreter unserer Stadt gesagt: Das ist unser Weg aus der Krise: Kreditaufnahme, um zu investieren, Arbeit zu geben und dennoch alle freiwilligen Aufgaben zu erhalten. Wie zum Beispiel das Freibad zu unterstützen. Wenn die gewählten Vertreter einer Kommune fast einstimmig beschließen, das machen wir so, dann müsste der weitere Weg uns eigentlich erspart bleiben, weil wir das so wollen. Wir schieben gigantische Infrastrukturdefizite vor uns her: Wir bräuchten allein 1 Million Euro, um mal alle unsere Straßen in Ordnung zu bringen, aber wir haben jährlich 80.000 Euro. Wir drehen hier jeden Euro fünfmal um. Dabei bräuchten wir insgesamt nicht mal mehr Geld im System. Wir müssten es nur freier nutzen und es anders verteilen können. Frei von der Bindung an Fördertöpfe.

Aber Sie haben doch regelmäßig Vertreter der Landespolitik und aus der Landesregierung in Augustusburg? Haben Sie denen nicht von Problemen an der Basis erzählt?

Es hat keine Priorität. Dafür verkämpft man sich nicht. So gab es viele Meilensteine, die zu meiner jetzigen Entscheidung geführt haben: Die schlechten Ergebnisse zur Bundestags- und Landtagswahl: Ich hätte mir mehr Demut gewünscht. Es wäre besser gewesen, in die Opposition zu gehen, um sich neu aufzustellen, und nicht auf Biegen und Brechen an der Macht festzuhalten. Die dann nicht reicht, um die eigenen Ziele durchzusetzen.

Bleiben Sie Mitglied der SPD-Kreistagsfraktion?

Ich habe der Fraktion angeboten, parteilos dabei zu bleiben. Das muss die Fraktion entscheiden, ob sie dies möchte.

Wie interessant ist Thüringen für Ihre Lebenspläne? In der SPD wird erzählt, es gäbe entsprechende Überlegungen?

Es gibt gute Gründe, nach Thüringen zu fahren. Diese sind aber Privatsache. Es ist alles so organisiert, dass erst mal alles so bleibt, wie es ist. Das wird Teil der Lebensplanung sein. Innerhalb dieser Amtszeit aber ändert sich nichts.grit/dahl/kok

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