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Die DAK-Gesundheit hat Schülerinnen und Schüler zu ihrem Wohlbefinden befragt. Fast die Hälfte leidet unter gesundheitlichen Beschwerden.
Die DAK-Gesundheit hat Schülerinnen und Schüler zu ihrem Wohlbefinden befragt. Fast die Hälfte leidet unter gesundheitlichen Beschwerden. Bild: Federico Gambarini/dpa
Sachsen
21.08.2024

Gegen den Schulstress in Sachsen: Kommt jetzt „Glück“ als Unterrichtsfach?

Die sächsischen Schüler und Schülerinnen fühlen sich oft erschöpft, überfordert und einsam: Deshalb sollen sie nun in der Schule noch umfassender lernen, wie man glücklicher wird. Der Landeschülerrat pocht auf eine entsprechende Änderung der Lehrpläne - und die Grünen fordern dafür sogar ein eigenes Schulfach.

Chemnitz/Dresden.

Überfrachtete Lehrpläne, Noten- und Leistungsdruck, Mobbing: Viele Schülerinnen und Schüler in Sachsen sehen sich dem hilflos ausgesetzt. Mehr als die Hälfte der Schüler beklagt inzwischen schon, körperlich abgespannt zu sein. Mehr als ein Drittel schläft mindestens einmal pro Woche schlecht. Fast ein Drittel fühlt sich allein und ausgeschlossen. Das geht aus dem neuen Präventionsradar der DAK-Gesundheit hervor, für das gemeinsam mit dem Institut für Therapie- und Gesundheitsforschung 23.000 Mädchen und Jungen zu ihrem Wohlbefinden befragt worden sind.

Amy Kirchhoff, Sprecherin Landesschülerrat, sieht die Schule bei der Vermittlung des Rüstzeugs zur Stressbewältigung in der Pflicht.
Amy Kirchhoff, Sprecherin Landesschülerrat, sieht die Schule bei der Vermittlung des Rüstzeugs zur Stressbewältigung in der Pflicht. Bild: Domenico Decker/LSR

Landesschülerrat: Schüler sind überdurchschnittlich unzufrieden

Der Landesschülerrat Sachsen (LSR) schlägt deshalb schon seit längerem Alarm. „Wenn man die Ergebnisse der Pisa-Studie zur Zufriedenheit der Schülerinnen und Schüler mit ihrem Leben betrachtet, sieht man, dass die Befragten überdurchschnittlich unzufrieden sind“, erklärt die LSR-Vorsitzende Amy Kirchhoff. „Stress und Frustration gehören zum Alltag der Schüler und Schülerinnen. Die Aufgabe von Schule besteht darin, den Alltag der Schüler und Schülerinnen zu thematisieren und dementsprechend auch verschiedene Bewältigungsmethoden zu vermit­teln.“ Deshalb hält der LSR mindestens eine „fächerübergreifende Einführung“ des Lernfeldes „Glück“ in den Lehrplänen für notwendig.

Grüne: Schule kann krankmachen

Die sächsischen Grünen haben diese Forderung jetzt aufgegriffen. „Unser Ziel muss es sein, den Wissensdurst, die Kreativität und die Lernfreude der Kinder, die sie mit in die Schule bringen, über die gesamte Schulzeit zu erhalten. Wir wollen Schulen, in denen gleichermaßen gelernt, gelebt und gelacht wird“, schreibt die grüne Bildungsexpertin Christin Melcher in einem Positionspapier. Doch die Realität sei für viele Schülerinnen und Schüler eine andere. Obwohl der Erziehungs- und Bildungsauftrag im Schulgesetz ganzheitlich formuliert sei, werde fachlichem Wissen ein höherer Stellenwert eingeräumt als persönlichem Wohlbefinden und psychischer Gesundheit. „Schule kann krankmachen. Die Corona-Pandemie wirkte wie ein Brandbeschleuniger.“ Fehlende Ressourcen wie der Lehrkräftemangel verschärften die Situation.

Christin Melcher, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag in Sachsen: „Junge Menschen werden insgesamt immer unglücklicher.“
Christin Melcher, stellvertretende Fraktionsvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen im Landtag in Sachsen: „Junge Menschen werden insgesamt immer unglücklicher.“ Bild: Ronald Bonß/dpa

Christin Melcher: Wir müssen Schule anders machen

Melcher verweist auf Studien, wonach junge Menschen insgesamt immer unglücklicher würden. Die Zeit der Jugend sei heutzutage geprägt durch „Ängstlichkeit, Unsicherheit und wenig Zuversicht für die Zukunft“, so die Politikerin. Als Gründe nenne die Glücksforschung die globalen Krisen und den ständigen Vergleich mit anderen, befördert auch durch die sozialen Medien. „Wir müssen Schule anders machen“, erklärt Melcher.

Gründe für gesondertes Schulfach „Glück“

Konkret wollen die Grünen eine „neue Lern- und Prüfungskultur mit weniger Leistungsnachweisen und alternativen Feedback-Formaten“. Mehr Kindern und Jugendlichen sollte ein längeres gemeinsames Lernen ermöglicht werden, etwa in Gemeinschaftsschulen. Der Umgang mit zum Beispiel mit Stress und Leistungsdruck sollte nach dem Willen der Grünen in einem Schulfach „Glück“ oder „Psychische Gesundheit und Schule“ behandelt werden. Zudem spricht sich die Grünen-Fraktion mehr Forschung zu diesem Thema.

In diesen Ländern steht „Glück“ schon auf dem Stundenplan

In Schweden, Norwegen, Australien und Neuseeland gehört Glück bereits zum Stundenplan. Auch in Italien, der Schweiz und in Österreich gibt es viele Schulen mit einem solchen Fach. Und auch in Deutschland sind immer mehr Menschen davon überzeugt, dass das Wohlbefinden der Schüler durch entsprechende Lehrinhalte in der Schule gestärkt werden sollte.

So sieht es in Deutschland

Ernst Fritz-Schubert ist einer der deutschen Wegbereiter für diese Entwicklung. Der Pädagoge und frühere Schulleiter startete 2007 an einer Schule in Heidelberg das Schulfach „Glück“. Sein Ziel: den Schülerinnen und Schülern einen Glücksbegriff vermitteln. Dabei steht die individuelle Persönlichkeitsentwicklung der Kinder im Fokus. Es gehe um Geborgenheit, Sicherheit, Sinnfindung, Freiheit und Selbstbestimmung, so Fritz-Schubert. Die Schüler müssten ihre Charakterstärken und -schwächen kennenlernen - diese als Ressourcen begreifen. Die Kinder müssten einen stabilen Selbstwert finden, auch mal ihre Komfortzone verlassen dürfen und einen inneren Antrieb finden, warum ihnen welches Ziel im Leben wichtig ist. Es geht bei dem Konzept nicht darum, Symptome wie Stress und fehlende Motivation zu bekämpfen, sondern nach den Ursachen zu suchen.

Um diese Form der Persönlichkeitsentwicklung an die Schulen zu bringen, hat der Pädagoge das gemeinnützige Fritz-Schubert-Institut gegründet. Inzwischen werden dort jährlich rund 500 Lehrerinnen und Lehrer aus- und weitergebildet. An bundesweit mehr als 100 Schulen gibt es heute bereits entsprechende Lehrinhalte.

In Sachsen stehen „Glück“ oder „Persönlichkeitsentwicklung“ aber bislang nur an ganz wenigen Schulen auf dem Lehrplan. Eine von ihnen ist das Diesterweg-Gymnasium in Plauen.

Wie werden aus jungen Leuten selbstbewusste Erwachsene? Jakob Kreisig, Religions- und Musiklehrer am Diesterweg-Gymnasium in Plauen, liefert dafür viele Ideen. Er hat so etwas Ähnliches wie das Schulfach „Glück“ entwickelt.
Wie werden aus jungen Leuten selbstbewusste Erwachsene? Jakob Kreisig, Religions- und Musiklehrer am Diesterweg-Gymnasium in Plauen, liefert dafür viele Ideen. Er hat so etwas Ähnliches wie das Schulfach „Glück“ entwickelt. Bild: Ellen Liebner/Archiv

In Plauen im Vogtland gibt es schon etwas Ähnliches

Dort bietet Religions- und Musiklehrer Jakob Kreisig seit dem Schuljahr 2022/23 in der Oberstufe das Wahlgrundfach „Persönlichkeitsentwicklung“ an. Andere Schulen interessieren sich für seine Materialien, bei der SPD hat er dazu auch schon einen Workshop gegeben, der Zuspruch aus der Schülerschaft ist da. „Eine Umfrage hat ergeben, dass mein Unterricht bei mindestens drei Viertel der Teilnehmenden aus dem ersten Jahrgang einen positiven Einfluss auf deren Wohlbefinden hatte“, sagt Kreisig. Gefühle könne man zwar nicht lernen, aber man könne lernen, dass Glück ein Nebenprodukt eines gefestigten Lebens ist, in dem ich zum Beispiel Klarheit darüber habe, wie ich in Beziehungen handele, welche Ziele ich habe oder darum, was ich brauche, um mit Stress klarzukommen. „Da geht es auch um Selbstfürsorge, ums Atmen, ums Essen und Trinken“, erklärt Kreisig.

Lehrer Kreisig passt die Lehrinhalte an die Wünsche der Schüler an

Aktuell passt Kreisig seine Lehrinhalte weiter an die Wünsche der Schüler an. „Die wollen noch mehr praktische Dinge für den Alltag lernen, zum Beispiel wie gehe ich mit der digitalen Flut um. Sie wollen mehr über Zeitmanagement, Arbeits- und Verhaltenspsychologie wissen“, sagt er.

Sachsens Kultusministerium kritisiert die Medien

Das sächsische Kultusministerium wirkt unterdessen genervt von dieser Diskussion um Glück. „Es vergeht kein Schuljahr, in dem nicht der Ruf nach einem zusätzlichen Unterrichtsfach ergeht“, konstatiert Ministeriumssprecher Dirk Reels. „Wo auch immer ein gesellschaftliches Problem ausgemacht wird, soll Schule reparieren, was andere nicht leisten wollen oder können.“ Gleichwohl wüssten die Lehrkräfte um die gesundheitsschädliche Wirkung der negativen Dauerberieselung der Medien und versuchten einen Gegenpol zu setzen. So widmeten sie sich gezielt den guten Nachrichten, die in der medialen Berichterstattung völlig zu kurz kämen. Oder die Lehrkräfte bestärkten die Schüler, selbst gute Nachrichten zu schaffen, indem sie etwas Gutes vor Ort tun.

Darum ist das Kultusministerium gegen ein Extra-Fach „Glück“

Zugleich verweist das Kultusministerium darauf, dass „Glück“ von jedem Lehrer in eigener pädagogischer Verantwortung ja bereits aufgegriffen werden dürfe, zum Beispiel im Ethikunterricht, aber auch fächerübergreifend oder im Rahmen von Projektwochen und Ganztagesangeboten. Darüber hinaus sei dieses Thema bereits jetzt schon in den Lehrplänen verankert, so in Ethik in Klasse 4 (Was brauchst Du zum glücklich sein?) oder auf dem Gymnasium in Ethik in Klasse 6 (Kennen verschiedener Glücksvorstellungen) oder in Klasse 8 (Suche nach Sinn und Orientierung, Krisenbewältigung, Glück). „Ein zusätzliches Unterrichtsfach bedarf es also nicht“, sagt Reelfs. „Dies widerspräche im Übrigen auch allen bildungswissenschaftlichen Erkenntnissen. Das Thema muss fachübergreifend und fächerverbindend behandelt werden.“ (juerg)

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