Das Drama am Aconcagua

Chemnitz/Aconcagua. In dieser Woche sollte es für Karl-Heinz Barth wieder in die Berge gehen. Diesmal mit seiner Frau Daniela - aber nur bis auf 2800 Meter Höhe und per Lift. Gemeinsam wollten sie beim Skifahren den Winter ausklingen lassen - wie jedes Jahr zu seinem Geburtstag. Doch einen gemeinsamen Skiurlaub wird es nie wieder geben. Daniela Barth bereitet gerade die Beisetzung ihres Mannes vor. So, wie er es sich für den Fall der Fälle schon vor Jahren gewünscht hatte: nur im Beisein von Ehefrau, Sohn und Bruder - auf einem kleinen Dorffriedhof im Kreis Mittelsachsen. Dort, wo sich die Eheleute über Jahre fürs Alter einen Bauernhof ausgebaut hatten und morgens stets vom Geläut der Kirchenglocken geweckt wurden. Hier - und nicht in seinem Geburtsort Zwickau oder seiner langjährigen Wirkungsstätte Chemnitz - wollte der Architekt seine letzte Ruhe finden.

Die Ehefrau, Juristin in der Chemnitzer Stadtverwaltung, kann noch immer nicht fassen, dass am 1. Februar von einer Sekunde auf die andere alle gemeinsamen Pläne starben. "Er hatte mir versprochen, dass es die letzte große Besteigung werden sollte", erzählt die 62-Jährige. Auf 35 Bergen, zwischen 3000 und 6000 Meter hoch, hatte sich Barth in den vergangenen zehn Jahren in Gipfelbücher eingetragen. Darunter dreimal auf dem Kilimanjaro (5895 Meter/Tansania), nach dem dritten Anlauf auch auf dem Mont Blanc (4810 Meter/französische Alpen) und auf dem Elbrus (5642/Kaukasus). Als sein höchster Berg stand der 6120 Meter hohe Dzo Jongo in Indien zu Buche. Diesmal sollte es - mit knapp 74 Jahren - am höchsten hinauf gehen: auf den 6962 Meter hohen Aconcagua in Argentinien. 2008 war Karl-Heinz Barth an diesem Berg gescheitert, weil seine Blutdruckwerte zu hoch waren und die Ärzte ihn zur Umkehr zwangen.

Der Aconcagua ist der höchste Berg Amerikas. Er zählt zu den "Seven Summits" - den sieben höchsten Gipfeln aller Kontinente. "Ich wusste, dass er seit Eintritt ins Rentenalter von den Bergen besessen war und in diesem Hobby eine neue Herausforderung nach einem erfüllten Berufsleben als Architekt gesucht hat", erzählt die Ehefrau. Zum Schluss, sollte es noch etwas Besonderes sein. Er habe sich deshalb auch besonders gut vorbereitet: dreimal pro Woche mindestens drei Stunden im Fitnessstudio. "Außerdem war er mehrfach in Leipzig, wo es die Möglichkeit gibt, unter Bedingungen in extremer Höhe, also mit wenig Sauerstoff, zu trainieren", erzählt seine Frau.

"Ich glaube, besser als er es getan hat, kann man sich nicht vorbereiten", bestätigt auch Peter Meckl, ein Polizeibeamter aus der Oberpfalz. Er war mit Karl-Heinz Barth und einem dritten Bergsteiger aus Thüringen, Peter Michel, am 16. Januar gemeinsam nach Argentinien aufgebrochen. Die Männer kannten sich bis dahin nicht. Sie einte der unbändige Wille, den Aconcagua zu bezwingen und jede Menge Bergerfahrung. Meckl war bereits am Pik Lenin (7134 Meter), am Elbrus sowie zweimal am Kilimanjaro erfolgreich. Michel hatte den Elbrus, den Mont Blanc und ebenfalls den Kilimanjaro geschafft. Mit 47 Jahren waren beide allerdings deutlich jünger als ihr Chemnitzer Begleiter. "Er war aber derart gut drauf, dass man nur den Hut ziehen konnte. Allerdings habe ich auch bemerkt, dass er sich immer wieder die Frage stellte, ob er dieser Anforderung gewachsen sei und ob er uns, die beiden Jüngeren, nicht möglicherweise bremsen würde." Diese Angst sei aber unbegründet gewesen.

Im ersten Camp, auf 3400 Meter Höhe, gab es den ersten Ärzte-Check. "Da werden Blutdruck, Puls und der Sauerstoffgehalt im Blut gemessen. Auch die Lunge wird untersucht. Bei allen Dreien war alles in Ordnung. Auch bei Karl-Heinz lag der Blutdruck im Limit." Zwei Nächte seien sie dort geblieben, zwischendurch auf 4000 Meter aufgestiegen, dann wieder zurück, um sich langsam zu akklimatisieren. Erst danach sei der Aufstieg zum eigentlichen Basislager in 4300 Meter Höhe erfolgt. "Hier zwang uns das unbeständige Wetter, vier Nächte auszuharren. Dazwischen sind wir bis auf 5000 Meter hoch, haben schon ein paar Sachen zum Camp Canada gebracht." Karl-Heinz Barth, den offenbar immer wieder Zweifel plagten, es nicht zu schaffen, schloss sich derweil einer österreichischen Gruppe an, die sich zum Akklimatisieren den 5013 Meter hohen Cerro Bonete vornahm. Der Bergesammler Barth schrieb abends in sein Tagebuch: "Zumindest mein Minimalziel ist geschafft: 5000 Meter!" Einige Zeilen später ist zu lesen: "Ich mache mir erstmals Gedanken, die Reise abzubrechen. Mir fehlt die Kraft - noch teilweise vom Durchfall - und ich spüre, dass es mit 74 Jahren zu 7000 Meter nicht mehr reicht." Am nächsten Tag gab es einen neuerlichen Ärzte-Check. Im Tagebuch steht: "Meine Werte 155/85 sind ok. Es gibt keinen medizinischen Grund, die Reise abzubrechen ... Die nächsten Tage werden schrecklich, mühsam, langweilig, wetterabhängig. Warum tue ich mir das an?"

Seine beiden Begleiter bekommen von diesen quälenden Fragen nichts mit. Im Gegenteil. Nach der viertägigen Zwangspause brechen die Männer am 27. Januar zum Camp Canada (5000 Meter) und wieder einen Tag später zum Nido Decondores in 5500 Meter auf. Der 47-jährige Thüringer Michel kommt erst 45 Minuten nach Barth an. Er hat erheblich mehr gesundheitliche Probleme. Zwei Bergführer begleiten die Deutschen, haben Stethoskop und Pulsmesser dabei. Und das nicht ohne Grund. "Der Aconcagua gilt als relativ leicht zu besteigen. Man braucht kein Seil und muss nicht klettern. Genau deshalb unterschätzen ihn viele und deshalb sind die Ärzte so darauf bedacht, dass nicht jeder rauf geht. Bei einem Wetterumschwung und wegen des Sauerstoffgehalts der Luft von nur 40 Prozent kann der Berg zur tödlichen Gefahr werden", erklärt Meckl.

Nach drei Übernachtungen wegen stürmischen Wetters geht es am 31. Januar zum Camp Colera in 6000 Meter Höhe. "Vorfreude sieht anders aus", schreibt Barth in sein Tagebuch. "Der Wind wurde immer stärker. Mein Zelt stand schon. 17 Uhr wurde ich in eine Schutzhütte umquartiert, weil der Sturm mein Zelt zerrissen hat. Wenn sich wenigstens die ganze Quälerei morgen am Gipfeltag lohnen würde! In 6000 Meter Höhe tut jeder Handgriff weh."

Hier enden Barths Aufzeichnungen. Peter Meckl erzählt, wie alle Drei am nächsten Morgen um 6 Uhr in der Dunkelheit aufbrachen. "Karl-Heinz war als erster startklar. Der Wind hatte etwas nachgelassen, und es gab zum Glück keinen Neuschnee. Meter um Meter, ganz langsam schleppten wir uns vorwärts. Karl-Heinz und ich vornweg. Peter Michel und unser Bergführer Ariel hinterher. Um 7.30 Uhr waren wir auf 6230 Meter Höhe. Wir machten zehn Minuten Pause." Den nächsten 20-minütigen Stopp hätten sie in 6400 Meter Höhe am Camp Independencia eingelegt. Ab hier muss der Aufstieg wegen starker Winde oft abgebrochen werden. Die Route führt unterhalb des Gipfels vorbei zu einer markanten Geröllrinne, der Canaleta. "Das ist einer Art Schlüsselstelle", beschreibt Meckl den Weg. Er und Barth seien vornweg gelaufen. Die anderen folgten im Abstand von 200 Metern.

"Karl-Heinz lief dicht hinter mir. Ich hatte noch zu ihm gesagt, er soll mir ein Zeichen geben, wenn ich zu schnell bin. Es ging leicht, aber stetig bergauf an dieser so genannten Traverse. Vor einem neuerlichen Steilstück beschlossen wir, auf einem Absatz kurz zu verschnaufen und zu schauen, wie weit die anderen waren. Wie ich mich umdrehe, sehe ich auf einmal den Karl-Heinz nach hinten wegkippen. Ich weiß nicht, ob er vorher noch was gesagt hat. Der Wind heulte und ich hatte den Kopf in meine dicken Kapuze gepackt. Ich rief nach ihm, aber ich hatte keine Chance, ihn zu packen. Er rollte 200 Meter den von Steinen durchsetzten, schneebedeckten Hang hinab. Mindestens zweimal hat er sich überschlagen", beschreibt der Bayer das Geschehen. "Unser Guide, der aus der Entfernung alles gesehen hatte, lief zu der Stelle. Als er zurück kam sagte er nur noch: Er ist tot."

Gegen 9.30 Uhr habe sich das Drama abgespielt. "Da waren wir schon 6501 Meter hoch." Vier Rettungskräfte haben Karl-Heinz Barth geborgen. Die Aktion dauerte bis 23 Uhr. "Ich selbst war wie traumatisiert und sagte mir immer wieder: Das gibt es doch nicht. Da ist einer, der keinmal gejammert oder geklagt hat. Dem mehrere Ärzte bescheinigt haben, dass alles passt. Und dann fällt der einfach den Berg runter. Sicher gab es einige Anzeichen, dass es ihm nicht so gut ging. Aber gut geht es bei so einer Tour keinem."

Karl-Heinz Barth war in dieser Saison das dritte Todesopfer am Aconcagua. 4000 Bergsteiger versuchen jedes Jahr, ihn zu bezwingen. Peter Meckl und Peter Michel wollen keinen neuen Anlauf unternehmen. Sie hatten die Tour sofort abgebrochen und sich in ihre Zelte verkrochen. "Ich bin bedient, habe das alles immer noch nicht verarbeitet", sagt der dreifache Familienvater.

Daniela Barth hat inzwischen schwarz auf weiß, woran ihr Mann starb: an schweren Verletzungen im Kopf und Brustbereich. Auch eine kriminaltechnische Untersuchung gab es zu dem Vorfall, mit dem gleichen Ergebnis . Inzwischen weiß sie aber auch, dass ihr Mann von den Bergen immer noch nicht lassen wollte. Für Juli hatte er bereits mit dem Alpin Center Zermatt die Besteigung des Schweizer Matterhorns (4478 Meter) geplant.

Die Buchung fand sie jetzt, nach seinem Tod, in seinen Unterlagen. Zweimal schon hatte ihn am Toblerone-Berg schlechtes Wetters zur Umkehr gezwungen. "Aber wenn ich es mir richtig überlege, hat er ja auch nur davon gesprochen, nicht mehr so hoch hinauf zu gehen." Wo er das technisch schwierige Matterhorn dabei eingeordnet hat, bleibt sein Geheimnis.