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Sächsische Radikal-Kulturmanagerin Ulla Heinrich: "Frauen werden entmutigt!"

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Ulla Heinrich hält dem Mackertum mehr entgegen als nur einen Genderstern: Die Dresdnerin setzt deutschlandweit starke feministische Zeichen von Hochkultur bis Punk.

Missy Magazine.

An einem Freitagvormittag in der "Missy"-Redaktion in Berlin-Mitte; Ulla Heinrich prüft jede Seite des druckfrischen Magazins, prüft Cover, Überschriften, Schnittlinien. Redaktionelle Arbeit hat sie in Dresden gelernt, und zwar am Europäisches Zentrum der Künste in Hellerau: In ihrem ersten "echten Job", wie sie es nennt, war sie sogleich in einer Leitungsposition der PR als Elternzeitvertretung. Jeden Monat habe sie ein gedrucktes Programmheft erstellen müssen: "Sinnlos", meint sie als Digital Native - "aber die perfekte Schule". Das Programm des Theaters schätzte sie sehr, nicht aber dessen "krasse Hackordnung" mit Wochenendarbeit und toxischen Kollegen. Sie hätte anfangs keine Ahnung von nichts gehabt und sei "hardcore angeeckt". (Wenn hier von "sie" oder "ihr" die Rede ist, ist die Person gemeint, denn Heinrich möchte nicht mit geschlechtsspezifischem Pronomen angesprochen werden.)

Polarisierende Aussagen wie diese fallen bei der aktuellen Geschäftsführerin des "Missy Magazine" wie Böller in Berliner Silvesternächten. Sie ist sehr direkt und spricht lieber drastisch als undeutlich; ihr Temperament ist herzlich und kämpferisch. Wenn Heinrich eine Sache sagt und gleich darauf eine andere, ist das nicht als Relativierung oder bloß performativ zu verstehen, sondern verhindert nur ein einseitiges Bild von der Lage. Denn Ulla Heinrichs Lage ist so: ambivalent und manchmal drastisch. Allein an diesem Vormittag erreicht die Redaktion ein rührender Dankesbrief einer Leserin und ein Hilfegesuch eines angeblich unschuldig Verurteilten. Meist aber liegen in der Post frauen- und transfeindliche Hassbriefe.

Ulla Heinrich navigiert durch solche Verhältnisse mit bemerkenswerter Klarheit. Auch am Hellerau kann sie immerhin nicht ausschließlich "angeeckt" sein, denn bei der Vertretungsstelle blieb es nicht. Sie arbeitete der Geschäftsführung zu und leitete die Abteilung für Digitale Kommunikation und Sonderprojekte. In diesen Positionen und in der freien Kulturszene prägte sie ihre Stadt und ganz Sachsen nachhaltig. 2015 gründete sie das Veranstaltungskollektiv "dgtl fmnsm" (ausgeschrieben: "Digital Feminism"), das die Schnittstelle von Kunst, Technologien und Feminismus mittels Performance und Theater erforscht. Dessen Formate werden heute am Berliner Theater "Hebbel am Ufer" aufgeführt. 2015 war Ulla Heinrich außerdem eine der Gründerinnen des queer-feministischen Konzertkollektivs "Böse & Gemein". Inspiriert von der Riot-Grrrl-Bewegung nahm sich diese vor, "Mackertum, Abwertung von Weiblichkeit (nicht an Genitalien gebunden), boyz-Clubs, toughe Atmosphären auf Konzerten, die zum davonlaufen und sicher nicht zum genießen sind", abzuschaffen.

Heute wird dieser Anspruch mehr und mehr zur Grundbedingung vieler Veranstalter - damals war er progressiv. Auf den Konzerten und dem jährlichen Festival bildeten Frauen hinter und vor der Bühne die dominante Präsenz, an der Technik ebenso wie an der Tür waren es Frauen und Queers, die alles regelten. Ulla Heinrich ist sich ihres Einflusses auf die Szene heute sehr bewusst und gesteht sich die Rolle zu, Strukturen geschaffen zu haben, die Nicht-Männern bislang vorenthalten worden waren. "Das Verhalten auf Konzerten hat sich durch uns verändert". Für sie war das nicht nur der Raum, in dem sie selbst harte Musik erleben wollte, sondern mehr noch eine "Selbstbefreiung" als queere Person und ein "revolutionärer Akt". Ihr Kollektiv, das bis zu 30 Personen versammelte, empfand sie als "eine Faust".

Ulla Heinrich geht in Subkulturen auf, und das von frühester Jugend an, von Gothic über Punk bis Techno. Kollektive sind für sie keine sozialen Projekte - sie betont, dass sie Nerd sei und die soziale Aufmerksamkeit nicht brauche. Doch Gruppen bewegen mehr, und Ulla Heinrich geht es um das Politische. Subkulturen sind politisch - und sie sind anders und provozieren damit. Das ist nicht die Generation Instagram, in der Millionen demselben Schönheitsideal nacheifern und täglich Hypes wie süße Automaten-Snacks ausspielen: "Am Ende geht es um Gerechtigkeit."
Und woher kommt dieses Bedürfnis? "Ich glaube, dass mein politisches Dasein darauf basiert, wie mich meine Eltern erzogen haben." Die waren Pionierleiterin und Pionierleiter in der DDR. Ulla Heinrich macht heute quasi dasselbe - in einem anderen System. In den 1990ern erlebte ihre Familie eine Zeit der Brüche mit Jobwechseln, Umschulungen, Umzügen, mal Geld, mal kein Geld haben. Themen, die Heinrich von Haus aus prägten; Frauenstärke, antiautoritäre Erziehung, Selbstständigkeit und einen Bezug zur Arbeit. Sie bewundert ihre Mutter für ihre Anpassungsfähigkeit. Aber auch politisch-moralisch hat sie einiges mitgenommen. "Gerechtigkeit spielt in unserer Familie eine Rolle und auch Mitgefühl für die, die ungerecht behandelt werden."

Der Blick für Ungerechtigkeiten trifft bei Ulla Heinrich auf einen starken Gestaltungwillen. Während ihres Kulturmanagement-Studiums in Nordrhein-Westfalen gründete und organisierte sie mehrere Kulturveranstaltungen, darunter Festivals wie das "Umsonst und draußen" mit bis zu 20.000 Besuchern. Kraftklub hatte dort erstmals in der Bandkarriere eine Headliner-Position.
Obwohl sie von der Planung bis zur Produktion "eigentlich alles" machte, wurde sie von den meist männlichen Musikern immer nur als "die vom Backstage" wahrgenommen und "die ganze Zeit angebaggert und belästigt". Zurück in Dresden, wollte sie diesen Fehler nicht noch einmal machen. Und wurde mit ihren Festivals und Veranstaltungen so erfolgreich, dass das Leipziger Club-Festival "Balance Club / Culture Festival" sie auch noch anfragte, in die Produktion einzusteigen, wo sie bis heute mitwirkt.

Der Anteil von Frauen auf Festivalbühnen liegt immer noch deutlich unter 20 Prozent. Besonders Booker beteuern oft, wie schwierig es sei, Musikerinnen zu finden. Solche Aussagen machen Ulla Heinrich wütend. "Jeder Booker, der sagt, er finde keine Frauen für die Bühne, ist scheiß faul!" Teilweise monatlich habe sie über fünf Jahre lang Bands für die Veranstaltungen von "Böse & gemein" gebucht, und immer hätte es mehr Musikerinnen gegeben als Bühnenzeit. Das Problem seien Männer in den Schlüsselpositionen Technik, Booking und Band, die wiederum nur Männer ansprächen und weibliche Fähigkeiten und Ästhetiken - was auch immer das bedeutete - abwerteten. Solange Männer in diesen Positionen keine ernsthafte Recherche betrieben, ihre Netzwerke nicht veränderten und auf den Konzerten nicht für eine diskriminierungsfreie Atmosphäre sorgten, würden Frauen in dieser Branche "absolut entmutigt".

Ein weiteres Thema ist für sie dabei die Ausweitung der Gleichberechtigung auf das Umfeld. Die Vereine sollten für Frauen im Team und auf der Bühne beispielsweise eine Möglichkeit zur Kinderbetreuung anbieten: "Weil, die Männer machen keine Care-Arbeit. Sorry, aber ist so!"

Mittlerweile beleuchten journalistische Analysen und "#MeToo"-Aussagen zunehmend die rückschrittlichen Geschlechterverhältnisse in der Branche. Heinrich sitzt heute als Geschäftsführung eines journalistischen Magazins und zudem als Jurymitglied von Musikförderinitiativen auf der anderen Seite des Vorhangs. Vor allem in letzterer Position hat sie Einblick und Einfluss auf die Auswahlmechanismen der Branche, die sie als "Männerförderpolitik" bezeichnet. Ein Beispiel: Karriere-Gaps, die entstehen, wenn Frauen sich um die Kinder oder Angehörige kümmern, gereichten denen immer noch zum Nachteil.

Heute arbeitet Ulla Heinrich als Geschäftsführung in einem feministischen Unternehmen. Aber was heißt das? Auch hier: Ambivalenzen, die es auszuhalten gilt. Heinrich räumt zu allererst ein, die Bezahlung sei "nicht sehr feministisch". Dafür arbeitet sie in einem Kollektiv, nicht in einer vertikalen Struktur, an deren Spitze sie allein regiert. Wichtige Entscheidungen sind hier Team-Sache; Personal, Stundenverteilung, Finanzen, auch die Frage, was auf dem Cover landet. Heinrich sieht sich eher wie eine Service-Kraft des gesamten Unternehmens, fällt aber auch unangenehme Entscheidungen, wenn sie muss. "Ich musste selber respektieren lernen, dass ich der Boss bin", denn auf Augenhöhe ließe sich nicht immer alles regeln. Die kollektive, kollaborative Unternehmensführung sei keinesfalls einfacher als die konventionelle, hierarchische. Sie beinhalte "extrem viel Scheitern und Konflikte" und mitunter die Mediation. Aber am wichtigsten sei immer das "Well-Being" der Mitarbeiterinnen, so Heinrich.

Aber wie "well" lebt es sich mit 36 Jahren als Geschäftsführung eines Print-Magazins, als künstlerische Leitung eines Veranstaltungskollektivs, Betreuung eines Club-Festivals plus Jury-Arbeit und "hin und wieder eine Theaterproduktion für extra Geld"? Ulla Heinrich findet Lohnarbeit auch "geil" - nur im Kapitalismus zu überleben, sei eben anstrengend.

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