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Werk der Woche: Schaufenstergedichte zu Carlfriedrich Claus von Hans Brinkmann in Chemnitz (2023).

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Mit dem "Werk der Woche" stellt die "Freie Presse" Kunst im öffentlichen Raum vor. Heute: Schaufenstergedichte zu Carlfriedrich Claus von Hans Brinkmann in Chemnitz (2023).

Kunst im öffentlichen Raum.

Lyrik als Kunst im öffentlichen Raum ist nicht eben häufig. Der Chemnitzer Galerist Bernd Weise hat schon mehrfach an die großen Schaufenster seiner Ausstellungsräume am Rosenhof Texte geklebt. Bis Ende März, wenn die Galerie ein paar Ecken weiter an die Innere Klosterstraße zieht, sind am Rosenhof noch vier Gedichte des Chemnitzer Autors und einstigen Stipendiaten der Villa Massimo, Hans Brinkmann, zu Carlfriedrich Claus zu sehen. In revolutionärem Rot prangt dort zum Beispiel "Die Unterseite der Geschichte". Der Text, gut zu lesen auf dem Foto, greift die von dem Philosophen Ernst Bloch beeinflusste Dialektik des Annaberger Künstlers Claus auf, der mit seinen "Sprachblätter" genannten Grafiken Sprache und menschliches Denken auf dem Weg zur humanen Gesellschaft erforschte.

Carlfriedrich Claus (1930 - 1998) wird oft zuerst über seine äußeren Lebensumstände wahrgenommen: das mit Büchern, Grünpflanzen und überquellendem Aschenbecher gefüllte Arbeitszimmer in der Souterrainwohnung des Annaberger Kinopalasts "Gloria", die asketische Lebensweise, die er auf Anraten Christa und Gerhard Wolfs etwas milderte. Dem befreundeten Schriftstellerpaar schrieb er: "Ich denke oft an unser Zusammensein, also auch an die Mahlzeiten, die Sie so köstlich-kräftig bereiteten. Sodass mir die Fragwürdigkeit meiner monotonen Kost immer stärker bewusst wird. Ich mich wohl nun doch endlich aufraffen und mir jeden Tag eine warme Mahlzeit machen werde. Man kann eben doch nicht nur von Kaffee, Tee, Babysan (ein Säuglingsnahrungsmittel),1 Brötchen, Brot, Äpfeln, Haferflocken leben, genauer gesagt: Man kann schon, aber um den Preis einer größeren Anfälligkeit."

Das scheinbare Eremitentum, das keines war, hat doch Claus Zehntausende von Briefen mit Philosophen, Künstlern, Interessenten an seiner Arbeit in aller Welt gewechselt. Wie er auf seine Umgebung wirkte, beschrieb der Künstler so: Er werde "in Annaberg allgemein eingeschätzt …: als armseliger, arbeitsscheuer Kaufmannsgehilfe, als Niete, als Versager rundum: kein Geld, keine Frau, kein Diplom, nicht mal einen Bauch."

Mit diesen Äußerlichkeiten hält sich Hans Brinkmann in seinen Texten nicht auf, nutzt sie höchstens einmal als Randglossen zu einem durch und durch vergeistigten, schöpferischen Leben, in dem Carlfriedrich Claus ein Denkgebäude errichtete, dessen Inhalt das Denken und damit die Sprache, in der sich Denken artikuliert, selbst
waren.

"Ich habe Ende der 1970er-Jahre zum ersten Mal Arbeiten von Carlfriedrich Claus gesehen", sagt der 1956 in Freiberg geborene Hans Brinkmann, "und mir hat gleich eingeleuchtet, dass das Denkbilder sind. Das Denken verläuft nicht linear, breitet sich strahlenförmig aus." Er habe dann immer wieder grafische Blätter von Claus angeschaut, später in einem Buch des französischen Philosophen Gilles Deleuze über Rhizome gelesen, eine Art unterirdisches Wurzelgeflecht, und mit Claus erkannt: "So funktioniert Denken, wie ein Pilzgeflecht, es wuchert in alle Richtungen. Und es kommt trotzdem etwas dabei heraus. Das hat mir immer gefallen."

Darauf spielt auch der Text über die "Unterseite der Geschichte" an, der zudem auf den von Ernst Bloch postulierten "Wärmestrom der Geschichte" verweist. Bloch hatte, wie es der Philosoph Michael Brie kurz beschreibt, "Musik, Kunst, Literatur, die neuen Wissenschaften der Psychologie und Psychoanalyse, die Philosophie, unzählige Phänomene des Alltags und der Technik durchforscht, um ‚Zeugnisse‘ zu finden für den Wärmestrom der Geschichte, für eine Tendenz alles Menschlichen hin zu einer ‚echten‘ Existenz und alles Natürlichen und Sozialen hin zur ‚Heimat‘." Dies sei immer "ein Schreiben gegen allzu viele und fast übermächtige Zeugnisse der Entwicklung hin zu modernster Barbarei, Fremdheit, eisiger Kälte und Lüge." Dieses Denken und Forschen, das bei Carlfriedrich Claus immer "vom Körper, von der Basis" ausgegangen sei und ins Utopische führe, so Hans Brinkmann, macht für ihn die zeitlose Aktualität des Künstlers aus.

Die Utopie einer humanen Gesellschaft war für Claus immer mit dem "Kommunismus" verbunden, obwohl er sich der Belastung des Begriffs durchaus bewusst war: "Ich spüre, wie dick dieses Wort geworden ist, wieviel Pathos es hat, und wie aufgeschwemmt sein Umfeld ist", schrieb Claus in seinen Notizen zu der Mappe "Aggregat K". Und doch habe das "Schlüsselwort ‚Commune‘", so Claus, "für mein Empfinden Frische, Morgenluft, umschließt die Forderung neuer Lebens- und Verhaltenssubstanz im Licht von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit".

Auch diesem Gedanken schließt sich Hans Brinkmann an. Er erinnert sich an einen Film, in dem gezeigt wird, wie Carlfriedrich Claus nach der Wende von der Stadt Annaberg-Buchholz einen Ring geschenkt bekomme. Claus lächele und wundere sich dann: "Er findet es schon seltsam, dass er jetzt, nach der Wende, als Kommunist eine solche Auszeichnung bekommt." Aber vielleicht ist auch dies ein Zeichen dafür, dass die Idee des Claus'schen Kommunismus mit der einstigen politischen Realität im "real existierenden Sozialismus" und vor allem dessen stalinistischer Ausprägung nichts zu tun hat.

Worum es geht, hat Hans Brinkmann in einem anderen Gedicht für Carlfriedrich Claus, zu lang fürs Schaufenster, aber abgedruckt in einer Veröffentlichung der Galerie Weise, unter dem Titel "Das dumme Gelapp" so beschrieben: "Unsere Erde ist eine so seltene, / wenn man sie aus dem Weltall betrachtet. / Manchmal merkt man es auch aus der Nähe." Kann man es schöner sagen in einem klugen "Gelapp", das das dumme ablöst?

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