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"Wir beißen uns durch"

Dank der Spenden der "Freie Presse"-Leser konnte der Alltag für die schwerstbehinderte Ulrike Schmidt und ihre Familie zumindest ein wenig einfacher werden. Zudem finanzierte der Verein 2015 zahlreiche weitere Hilfsprojekte. Heute startet die neue Spendenaktion.

Kuhschnappel.

Ulrike Schmidt sitzt am Tisch in ihrer Wohnküche. Vorsichtig greift sie nach dem Kreidestift. Zweimal entgleitet er ihr, dann kann sie ihn fassen. Sie lächelt. Langsam lässt die 42-Jährige den Stift über das Papier gleiten. Jetzt ist sie in ihrer Welt, denn ihr gelingt etwas, ohne auf die Hilfe eines anderen Menschen angewiesen zu sein.

Diese Momente sind im Leben von Ulrike Schmidt selten geworden. Sie leidet an einer Erkrankung des zentralen und peripheren Nervensystems: Amyotrophe Lateralsklerose - eher bekannt unter seiner Kurzform ALS. Betroffen von der Krankheit ist derjenige Teil des Nervensystems, der für die willkürliche Steuerung der Skelettmuskulatur zuständig ist. Die Krankheit ist bisher nicht aufzuhalten. Bei vielen Patienten führt sie innerhalb weniger Jahre zum Tod.

Bei Ulrike Schmidt brach die Krankheit vor drei Jahren aus. Damals waren ihre Kinder 3, 5 und zehn Jahre. Nach der Elternzeit für die jüngste Tochter wollte sie eigentlich wieder arbeiten gehen. Daraus wurde nichts. Ehemann Frank Schmidt erinnert sich an die ersten Symptome, die ihn wie aus heiterem Himmel trafen. Seine Frau kam von einem Bewerbungsgespräch zurück und wollte ihm davon erzählen - doch es ging nicht. Die Stimme versagte ihr. Solche Situationen gab es anschließend häufiger.

Frank Schmidt suchte sich Rat bei einem befreundeten Mediziner. Der drängte auf eine sofortige Untersuchung. Er hatte wohl eine Vermutung. Und diese bestätigte sich nach einer wahren Krankenhaus-Odyssee. Ulrike Schmidt leidet an ALS, und zwar an jener Form, bei der zuerst das Sprachsystem und später dann der Bewegungsapparat des Patienten gelähmt werden.

Die Diagnose war für die gesamte Familie ein Schock - vor allem, weil niemand die Ursache kennt und die Medizin dafür bisher auch keine Therapie gefunden hat. Wie gehen wir damit um? Was kommt auf uns zu? Wie können wir meiner Frau, unserer Mutti helfen? Wie wird die Krankheit sie, wie wird die Krankheit uns verändern? All diese Fragen drängten sich auf. Und sie nagten natürlich besonders an Ulrike Schmidt, die spürte, wie die Krankheit schrittweise von ihrem Körper Besitz ergriff. "In dieser Zeit habe ich den Computer und das Internet verflucht. Dort findet man zwar vieles, was hilfreich für den Umgang mit der Krankheit sein kann. Aber eben auch Berichte, die alles andere als hilfreich sind", sagt Frank Schmidt.

Heute ist er froh, dass es Computer und Internet gibt. Sie sind für seine schwerstbehinderte Frau das Fenster zur Welt. Darüber hält sie Kontakt zu Freunden, Bekannten. Aber auch zu anderen Menschen, die an derselben Krankheit leiden und sich gegenseitig oft eine Stütze sind - denn sie verstehen einander, können sich in die Ängste und Gedanken des anderen hineinversetzen. "Ich selbst kann das nur bis zu einem gewissen Punkt", sagt Frank Schmidt offen.

Umso mehr bewundert er seine Frau, die gegen diese Krankheit kämpft - auch wenn es aussichtslos erscheint. Obgleich sie mit ihren Kindern wegen der zunehmenden Lähmungen kaum noch reden und ihnen auch körperlich nicht helfen kann, so will sie für sie da sein, will miterleben, wie sie ihren Weg finden. Einen Weg, der von ihnen viel Selbstständigkeit verlangt, aber auch großes Verständnis und Akzeptanz dafür, dass in der eigenen Familie vieles anders - ja schwerer - ist, als bei ihren Freunden.

Die schwer zu akzeptierende Wahrheit ist, dass es nicht leichter werden wird. Die Krankheit schreitet unaufhaltsam voran. Sandra Schadek litt selbst 15 Jahre an der Krankheit, bevor sie im Januar dieses Jahres im Alter von 43 Jahren verstarb. In dem Buch "Gefangen im eigenen Körper" erzählt sie von ihrem Ringen mit dieser Krankheit. Sie hat eindrücklich beschrieben, was es bedeutet, ALS zu haben: "Die einfachsten und selbstverständlichsten Dinge werden unglaublich anstrengend, bis sie irgendwann nicht mehr oder nur mit Hilfe anderer Menschen, Hilfsmittel oder medizinischer Geräte möglich sind. Laufen, Treppen steigen, stehen, aufstehen und hinsetzen, Auto fahren, an- bzw. ausziehen, waschen, schlafen, etwas tragen oder aufheben, greifen und festhalten, schreiben, umblättern, telefonieren, mit Messer und Gabel essen, kauen, schlucken, trinken, sprechen, atmen. Es ist sehr deprimierend und beängstigend, zuzusehen, wie eine Funktion nach der anderen verloren geht und ich in immer mehr Bereichen abhängig werde. Schon jetzt ist Denken das Einzige, was ich noch genauso schnell kann wie vor der ALS - und irgendwann wird es das Einzige sein, was ich überhaupt noch kann."

Familie Schmidt ist reingewachsen in den Alltag, der natürlich in erster Linie bestimmt wird von der Krankheit. Alle fünf wollen sich davon nicht gefangen nehmen lassen, auch wenn das mitunter sehr schwer ist. Die Familie weiß, dass sie mit der Krankheit leben, dass sie für diesen Kampf, der es auch ist, immer wieder stark sein muss. Aus vielen Kontakten zu anderen Betroffenen hat Ulrike Schmidt erfahren, dass es hilfreicher für sie selbst ist, sich darüber zu freuen, was sie noch kann, anstatt dem nachzutrauern, was sie nicht mehr kann.

Diese Einstellung zum Leben lässt sie auch immer wieder zu Kreidestift und Zeichenblock greifen. Mitunter kostet so eine Zeichnung unglaubliche Mühe. Wenn der letzte Strich gesetzt ist, macht sich aber das gute Gefühl breit, wieder etwas allein geschafft zu haben. Die Originale mit Tieren und Blumen zieren die 300 Jahre alten Wände des alten Dreiseithofes. Aus den Kopien der Bilder entstehen Kalender - als persönlicher Dank für Freunde und Bekannte, die an ihrer Seite stehen.

Seit kurzem kann sich Ulrike Schmidt über ein kleines Stück zurückgewonnener Selbstständigkeit freuen. Aus freien Spenden von "Freie Presse"-Lesern finanzierte der Verein "Leser helfen" den Einbau eines Treppenliftes. Somit kann Ulrike Schmidt wieder etwas mehr am Leben der Familie teilhaben.

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