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Führt analoges Leben zu Ausgrenzung?

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Es gibt eine bestimmte Gruppe von Menschen, die mit dem digitalen Zeitalter nicht Schritt halten können oder wollen. Das aber zieht zunehmend Abstriche in der Lebensqualität nach sich.

Erzgebirge.

Brigitte S.* aus einem kleinen Ort im Erzgebirge ist unglücklich, denn sie kann nicht wie geplant nach Baden-Württemberg fahren. Dabei würde die 84-Jährige ihrem - wenn auch schon längst erwachsenen - Sohn so gerne zur Seite stehen, ihm helfen und ihn "bemuttern", wenn er nach einer geplanten Gallen-OP aus dem Krankenhaus wieder nach Hause kommt. "Doch es gibt niemand mehr, der mir eine Zugverbindung von hier zum Wohnort meines Sohnes raussucht und mir dazu noch ein Ticket bucht. Das muss man heute alles im Internet machen. Doch das hab' und kann ich auch nicht. Und ein Taxi würde mich weit über 600 Euro kosten", klagt sie.

Die 84-Jährige gibt offen zu, dass sie sich nie mit dem Thema Computer befasst hat. "Als 1997 unser Betrieb aufgelöst wurde, haben sie im Hof die ganze Bürotechnik auf einen Haufen gestellt und zum Mitnehmen freigegeben. Seither habe ich eine Schreibmaschine", sagt die Erzgebirgerin. Auf dieser verfasst sie bisher ihre gesamte Korrespondenz mit Ämtern und Behörden. "Aber jetzt wollen auch die alles nur noch per E-Mail. Aber das kann ich nicht. Es gibt übrigens auch kein Kohlepapier für Durchschläge mehr", wundert sich die Frau, die einst in der Materialwirtschaft eines großen Betriebs tätig war.

Das Telefon sei bislang ihre "Verbindung zur Welt" gewesen. Ein solches zu bekommen, galt 1987 schon als Errungenschaft, erzählt sie. Mittlerweile habe sie auch ein Seniorenhandy für unterwegs. "Aber kein Smartphone", fügt sie hinzu. Das sei ihr viel zu kompliziert. Und die beiden Söhne und die Enkel wohnen nicht hier, sondern Kilometer weit weg. Ihr Mann starb 2002.

Die DB-Agentur am Bahnhof in Schwarzenberg wurde 2018 geschlossen. Die private Betreiberin gab nach gut 20 Jahren auf. Es habe sich nicht mehr gelohnt, gab sie als einen der Hauptgründe an. Die DB-Agentur in Aue ist seit Jahren zu, die nächste Anlaufstelle mit persönlicher Beratung sei in Zwickau, lautete die telefonische Auskunft der Bahn. "Ich soll nach Zwickau fahren, um mich beraten zu lassen", ergab die Telefonrecherche von Brigitte S*. Bis vor wenigen Monaten habe auch ein Reisebüro in Schwarzenberg die Tickets verkauft und die Zugverbindung herausgesucht. Doch diesen Service hat Marco Ullmann als Chef des Unternehmens nunmehr eingestellt: "Dazu sind die vertraglichen Hürden mit der Bahn zu hoch und die Vergütung keineswegs angemessen, wenn man den Zeitaufwand berechnet, den ein Mitarbeiter damit verbringt. Es tut uns wirklich leid, aber für die von den Bahn gebotenen Konditionen kann man das wirklich nicht mehr machen."

Im Auer Reisebüro von Kathrin Salzer wären eine Bahnauskunft und der Kauf von Fahrkarten noch möglich. "Aber man muss bei uns persönlich vorbeikommen", so die Chefin. Und am Senioren-Ratgebertelefon der Stadt Schwarzenberg heißt es: "Wir beraten nur zu Anträgen, die an die Stadtverwaltung zu richten sind."

Lutz Mehlhorn, der Geschäftsführer der Erzgebirgsbahn, kennt das Problem. Zwar gebe es mittlerweile überall entsprechende Automaten, an denen Fahrkarten fürs gesamte Bundesgebiet gezogen werden können. Aber er weiß auch um die Scheu vieler Leute vor dieser Technik. Der von Personen bediente Verkauf sei heute nicht mehr wirtschaftlich.

Kerstin Klöppel kennt diese Angst älterer Menschen vor der digitalen Technik. Sie ist studierte Gerontologin und bietet unter dem Dach der Arbeiterwohlfahrt Erzgebirge Beratungen für Senioren an. "Ich schätze, das Problem betrifft etwa 80 Prozent der älteren Menschen im ländlichen Raum", sagt Kerstin Klöppel. Der Unterschied zur Großstadt sei extrem. Aus ihrer Sicht werde die Kluft immer tiefer, das isoliere eine bestimmte Gruppe von Menschen zunehmend. "Ich kenne viele, auch über 60-Jährige, die sehr mit Smartphone- und PC-Technik fremdeln. Hinzu kommt, dass nicht selten auch vor Hackerangriffen oder Cyberkriminalität gewarnt wird. Das verängstigt noch mehr", so Klöppel.

Nicht nur der Kauf einer Fahrkarte, selbst die Teilnahme an der diesjährigen Erhebung Zensus ist ein Beispiel dafür. Eine Frau aus Oelsnitz hatte Probleme, an die Unterlagen in Papierform zu gelangen. "Ohne Computer ist das schwierig. Aber ich kauf' mir so ein Ding nicht mehr. Ich kann das gar nicht", sagt die 69-Jährige. Kinder und Enkel habe sie zwar, aber die hätten keine Zeit. "Ich muss mich halt durchwurschteln", meint sie. Doch schon beim Einkauf fühle sie sich benachteiligt, da Kundenkarten und Rabatte nur noch über Smartphone funktionierten, zählt sie auf. Auch die aktuell geforderten Daten für die Neufestlegung der Grundstückssteuer - alles geht nur noch im Netz.

Es werde also zunehmend schwieriger, diese Menschen auf dem Weg der Digitalisierung nicht zu vergessen, sie mitzunehmen. Das sieht auch Andreas Schmidt aus Bermsgrün so. Er hat sich als zweites Standbein neben seiner Holzkunst im Bereich Seniorenassistenz ausbilden lassen. "Dem Thema digitale Medien wurde ein Kapitel der Ausbildung gewidmet. Und ich habe von einigen älteren Menschen schon gehört, dass sie das vor große Probleme stellt", so Schmidt.

Zumeist seien es Frauen, deren Männer verstorben sind, und die seit jeher ein Problem oder eine gewisse Scheu vor Technik haben, weiß die Gerontologin, die sich beruflich mit dem Prozess des Alterns beschäftigt. Oft betreffe es jene Generation von Frauen, die selbst nie ans Steuer des Familienautos durften und sich späterhin nicht mehr getraut haben. "Nicht allen, aber einem nicht unerheblichen Prozentsatz geht das so", so Klöppel.

Bundesweit gibt es ein Angebot, das sich "Digitaler Engel" nennt. Ein mobiles Projekt des Vereins "Deutschland sicher im Netz", gefördert vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend. Der Verein wurde 2006 gegründet. Als gemeinnütziges Bündnis unterstützt er Verbraucher und Verbraucherinnen sowie kleinere Unternehmen im sicheren Umgang mit der digitalen Welt. Im Zuge dessen entstand das Projekt "Digitaler Engel", der älteren Menschen praxisnah, persönlich und vor Ort vermittelt, wie die täglichen Abläufe und Gewohnheiten durch digitale Anwendungen bereichert und erleichtert werden können. Hierfür fährt der "Digitale Engel" mit einem Infomobil durch die ländlichen Regionen Deutschlands. Zurzeit ist er in Brandenburg unterwegs. Etwa 150 Stationen stehen pro Jahr im Tourplan. Wo die Route entlang führt, lässt sich der Internetseite entnehmen. Ob er irgendwann auch das Erzgebirge streift, kann der aktuellen Auflistung nicht entnommen werden. Doch es gibt auch die Möglichkeit, einen solchen Vor-Ort-Termin anzumelden - allerdings online - unter der Internetseite digitaler-engel.org.

Brigitte S.* sperrt sich keineswegs komplett gegen moderne Technik, wie sie betont. Auch habe sie sich bereits diverse Broschüren besorgt, um sich zu belesen. "Aber schon bei den vielen englischen Begriffen weiß ich gar nicht, was oder welche Taste gemeint ist", sagt sie. Die Fahrt zu ihrem Sohn hat sie letztlich nicht angetreten. "Wir haben telefoniert und vereinbart, dass er mal herkommt, wenn es ihm wieder besser geht", sagt die Rentnerin, die zu einer Generation gehört, die noch analog lebt und sich dadurch aber immer mehr abgehängt fühlt.

*Name der Redaktion bekannt

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