Volkmar Schreiter war viele Jahre lang Bürgermeister von Großschirma. Dann kam die AfD in die Stadt. Welchen Preis zahlen Kommunalpolitiker, die sich dieser Partei entgegenstellen?
Am Abend, als Volkmar Schreiter noch einmal zum Bürgermeister gewählt wurde, schickte er ein Foto an seine Kinder. Die Stimmen waren noch nicht ausgezählt. Noch war alles offen. Auf dem Foto hielt Schreiter zwei Sektflaschen, eine in jeder Hand, auf der einen stand „Sieg“, auf der anderen „Freiheit“.
Vierzehn Jahre lang war Volkmar Schreiter zu diesem Zeitpunkt Bürgermeister von Großschirma, einer kleinen Stadt in Mittelsachsen. Er hatte lange überlegt, ob er noch einmal antreten sollte. Er ging auf die sechzig zu, hatte immer für seine Arbeit gelebt, erst als Geschäftsführer der Agrargenossenschaft, dann als Bürgermeister. Ein Job ohne Feierabend, mit vielen Abendterminen, am Wochenende Feuerwehrfeste und Dorffeste.
Schreiter fiel es schwer, sich ein anderes Leben vorzustellen. Mit seiner Familie hatte er viel darüber gesprochen, was danach kommen könnte: Er wollte eine Weltreise machen, Bücher lesen, vielleicht seine Memoiren schreiben. Er würde seinen Lebensinhalt verlieren, aber er wäre frei. Ein Neuanfang.
Doch dann, als 2018 in Großschirma gewählt werden sollte, gab es nur einen anderen Kandidaten, einen Mann von der AfD. „Er hat gesagt, jedem anderen würde ich es überlassen“, erzählt sein Sohn Cornelius. „Aber nicht einem Kandidaten von dieser Partei.“
Der Kandidat hieß Rolf Weigand, er war damals 34 Jahre alt, lebte erst ein paar Jahre in Großschirma. Er war zum dritten Mal Vater geworden, hatte an der Bergakademie in Freiberg promoviert und ein Start-up gegründet, das nicht viel Geld abwarf. Ein halbes Jahr vor der Bürgermeisterwahl war Weigand für die AfD in den sächsischen Landtag eingezogen, als Nachrücker, weil ein anderer Abgeordneter in den Bundestag wechselte. Er war ein Mann aus der zweiten Reihe, der jetzt die Chance hatte, der erste hauptamtliche AfD-Bürgermeister Deutschlands zu werden.
Und die Partei wiederum brauchte endlich einen Beweis, dass sie eine echte Volkspartei geworden war. Sie saß im Bundestag, in mehreren Landtagen – was ihr fehlte, war die Basis. Menschen, mit denen die AfD Politik machen konnte.
Die Kommunalparlamente sind dafür das ideale Trainingsfeld. „Kommunalpolitiker sind das Gesicht vor Ort“, sagt der Sozialwissenschaftler David Begrich. „Der Bürgermeister ist nicht Björn Höcke, er ist einer aus dem Ort, mit dem kann man reden.“ In der Kommunalpolitik bietet sich der AfD die Möglichkeit, nicht nur Weltanschauungspartei zu sein; sie kann sich dort normalisieren und breiter aufstellen. Und das, sagt Begrich, der seit Jahren Kommunalpolitiker im Umgang mit der AfD berät, brauche die Partei, um langfristig erfolgreich zu sein.
Der Weg an die Macht führt über die Kommunalparlamente. Als die AfD 2017 in den Bundestag einzog, sagte Alexander Gauland noch am Wahlabend: „Wir werden sie jagen.“ Und er meinte damals nicht nur Angela Merkel. Er sagte: „Wir holen uns unser Land zurück.“ Die Jagd findet nicht nur in Berlin statt. Sie beginnt in den Gemeinden.
Volkmar Schreiter, der Bürgermeister einer sächsischen Kleinstadt, ein Mann mit einem runden, freundlichen Gesicht und einem dicken grauen Schnauzbart, beschloss, sich der AfD entgegenzustellen, ihren Erfolg zu verhindern. Oder zumindest zu verzögern.
„Du warst ein Opfer dieser Zeit“
Großschirma: 5500 Einwohner, verteilt auf neun Gemeinden, die verstreut an der Bundesstraße 101 liegen. Jede ist ein kleines Dorf für sich, hier und da stehen Fachwerkhäuser entlang der Mulde. Das Neubaugebiet nennen sie hier „Klein Wandlitz“. An der Auffahrt zur A4 befindet sich ein großes Möbelhaus, ein Logistikzentrum, ein Einkaufszentrum mit viel Leerstand. Es gibt ein paar Windräder, ein Schwimmbad, das mit EU-Geldern saniert wird, mehrere Kitas und zwei Grundschulen. Zur Oberschule fahren die Kinder mit dem Bus in die zehn Kilometer entfernte Kreisstadt Freiberg.
Hier spielt Volkmar Schreiters Geschichte. Die Freie Presse hat mit einem Dutzend Menschen gesprochen, die ihn und die politische Situation in Großschirma gut kennen: mit seinen drei Kindern, mit aktiven und ehemaligen Stadträten, mit politischen Wegbegleitern, Pfarrern und auch mit Rolf Weigand, dem Mann von der AfD.
Volkmar Schreiter selbst kann nicht mehr erzählen, was sich verändert hat, seit die AfD in seiner Stadt auftauchte. Er hat sich im Oktober vergangenen Jahres das Leben genommen.
Wenn Sie das Gefühl haben, an einer Depression zu leiden oder sich in einer scheinbar ausweglosen Lebenssituation befinden, sollten Sie nicht zögern, Hilfe anzunehmen. Die Telefonseelsorge ist rund um die Uhr kostenlos erreichbar unter 0800 1110111 und 0800 1110222 sowie per E-Mail und Chat unter www.telefonseelsorge.de
Danach gab es Gerüchte weit über die Stadtgrenzen hinaus. Die Menschen fragten sich, ob es stimmt, dass die AfD den Bürgermeister in den Burnout getrieben hat. Dass er sich umbrachte, weil die AfD ihn so lange vor sich hertrieb, bis er nicht mehr konnte.
Die ersten, die laut aussprachen, dass etwas aus den Fugen geraten war in Großschirma, waren die Pfarrer. Am Reformationstag, zwei Wochen nach Schreiters Tod, hielt der neue Freiberger Dompfarrer seine Antrittspredigt, er sprach über den toten Bürgermeister: „Wie unbarmherzig und widerwärtig sind doch manche Menschen im Umgang miteinander.“
Zwei Wochen später fand die Trauerfeier statt. Die Predigt hielt Justus Geilhufe, der Pfarrer von Großschirma, er hatte Volkmar Schreiter ein paar Tage zuvor beerdigt. „Wie soll das Leben gehen, wenn der andere kein Streitpartner mehr ist, sondern einer, der am Ende weg muss, weil er der Macht des anderen im Weg steht?“, sagte Geilhufe. „Es ist nicht dieser Tod, der unser Zusammenleben erschüttert. Dieser Tod ist das Ergebnis dessen, dass unser Zusammenleben lange schon erschüttert ist.“
In der voll besetzten Nikolaikirche im Zentrum von Freiberg saßen Menschen von der Feuerwehr, vom Heimatverein, vom TuS 1875 Großschirma, Schreiters Fußballverein; er spielte in der Abwehr. Schreiters Frau saß ganz vorne, neben ihr die drei Kinder, sie haben die gleichen weichen Gesichtszüge wie ihr Vater: Cornelius, 40 Jahre alt, der als Zimmermann in Australien gearbeitet hat und jetzt Erzieher in Markkleeberg ist. Konstantin, 36, ein Software-Entwickler, der vor Jahren nach Köln gezogen ist, aber jeden Montag im Internet nachschaut, was es Neues in Großschirma gibt. Und Josefine, 32, die in Magdeburg an der Uni forscht und gerade ein Kind bekommen hat, Schreiters fünftes Enkelkind. Die letzten Wochen waren schwer. Sie haben funktioniert, die Mutter getröstet, alles organisiert. Sie haben lange überlegt, ob sie verhindern können, dass jemand von der AfD kommt. Aber wie sollte das bei einer öffentlichen Trauerfeier gehen?
Rolf Weigand saß in der achten Reihe, rechts außen. Auch er hörte, was der Oberbürgermeister der Stadt Freiberg sagte: „Jedes Wort, das wir an einen Bürgermeister richten, richten wir auch an den Menschen. Worte, die wie Schläge sein können. Die der Empfänger als Amtsträger und als Mensch aushalten muss, auch wenn er es vielleicht nicht kann.“
Ins Kondolenzbuch schrieb einer: „Du warst ein Opfer dieser Zeit.“
Niemand kann mit Gewissheit sagen, warum sich Volkmar Schreiter das Leben genommen hat, auch nicht seine engsten Vertrauten. Er hat seine Entscheidung mit niemandem geteilt, keinen Abschiedsbrief hinterlassen. Er war am Ende schwer an Depressionen erkrankt, hatte sich mehrmals in einer Klinik behandeln lassen und war trotzdem nicht wieder gesund geworden.
Auch Wissenschaftler wissen nicht, warum manche Menschen in eine suizidale Krise kommen, während andere mit einer Depression umgehen können. „Menschen begehen Suizid, wenn sie subjektiv eine Situation als aussichtslos empfinden“, sagt die Leipziger Suizidforscherin Heide Glaesmer, zum Beispiel weil grundsätzliche Lebensziele bedroht sind. „Man kann dann in einen Modus kommen, in dem man keine Alternative mehr sieht. Wenn jemand in diesem Tunnel steckt, wird es hochgefährlich.“
Viele haben versucht, Volkmar Schreiter aus dem Tunnel herauszuhelfen, seine Frau, die Kinder, seine Freunde, Kollegen. Es gibt Menschen, die haben ihm bis zum Schluss nicht angemerkt, wie schlecht es ihm ging. Er hat sich von niemandem verabschiedet. Was bleibt, ist eine Spurensuche: Warum hatte er sein Leben nicht mehr aushalten können?
Es hat sich etwas verändert im Land, und die Bürgermeister spüren es zuerst
Seit Jahren sind Kommunalpolitiker immer häufiger Anfeindungen ausgesetzt. Sie werden beschimpft und bedroht. Eine Studie zeigte 2021: 72 Prozent der Bürgermeister in Deutschland wurden schon mal beleidigt, bedroht oder tätlich angegriffen, vor allem in kleineren Gemeinden haben Hass und Hetze zugenommen. Die Corona-Pandemie hat diesen Trend verstärkt, aber schon 2015 wurde das Haus der damaligen Zwickauer SPD-Bürgermeisterin Pia Findeiß immer wieder von Rechten beschmiert; die Bürgermeisterin von Arnsdorf trat 2019 zurück, nachdem sie jahrelang von Rechten bedroht wurde.
Es hat sich etwas verändert in diesem Land. Und die Bürgermeister gehören zu denen, die es zuerst spüren.
Als im Juni 2018 die Bürgermeisterwahlen in Großschirma stattfanden, wusste Volkmar Schreiter, dass es kein einfacher Wahlkampf werden würde. Die AfD war bei der Bundestagswahl im Wahlkreis Mittelsachsen, in dem Großschirma liegt, stärkste Kraft geworden. Schreiter gehörte der FDP an, aber das hatte bisher keine große Rolle gespielt. Parteien haben ihn nie groß interessiert, erzählen Menschen, die viele Jahre mit ihm im Stadtrat saßen. Der Bürgermeister ist der Chef der Verwaltung. Er muss zusehen, dass der Laden läuft.
In Großschirma lief es gut. Als Schreiter 2004 das Bürgermeisteramt übernahm, war gerade die hoch verschuldete Stadt Siebenlehn eingemeindet worden. Alles musste saniert werden: Marktplatz, Turnhalle, die Straßen waren voller Schlaglöcher. Jahr für Jahr hatte Schreiter die Verschuldung gesenkt, Kitas modernisiert, Straßen und Sportplätze reparieren, eine Grundschule bauen lassen. Er sagte immer: „Ein Euro hat 100 Cent, die können wir ausgeben, mehr nicht.“ Er war niemand, der mehr versprach, als er einlösen konnte.
Als 2018 der AfD-Mann Bürgermeister werden wollte, holte Volkmar Schreiter seine alten Wahlplakate wieder raus. Sie zeigten ihn in dicker Jacke und Schal. Es war Sommer. Rolf Weigand, der junge Herausforderer, dachte sich einen Slogan aus: „Zeit für frischen Wind“. Sein Wahlkampf war professioneller, strategischer, moderner. Am Vatertag lud er zu einer Radtour ein: „Radeln mit Rolf“. Er drehte Videos, montierte ein Bild von sich in Anzug und Krawatte vor das Rathaus und postete es auf Facebook. In Großschirma hieß es damals: Es wird ein knappes Rennen.
Eine Woche vor der Wahl wurden Schreiters Plakate mit Parolen beklebt: „Volkmar der Selbstherrliche“. „Grinsen kann ich am besten“. Er stieg ins Auto und sah sich alles an. Die meisten Plakate ließ er hängen. Er habe gewollt, dass die Menschen sehen, mit welchen Mitteln seine Gegner arbeiten, sagt seine Tochter Josefine, die damals mit im Auto saß. Schreiter erstattete Anzeige gegen unbekannt. Der Staatsschutz ermittelte, ohne Erfolg.
Am Wahltag schickte Weigand seine Helfer in die Wahllokale, sie sollten die Stimmenauszählung beobachten – wie Donald Trump 2016. Weigand sagt, das sei legitim gewesen, er habe schnell das Ergebnis wissen wollen.
Seine Männer gaben ihm fünf Minuten nach der Auszählung das Ergebnis durch. Weigand, der schon im Rathaus war, gratulierte Volkmar Schreiter persönlich. Schreiter hatte 59,3 Prozent der Stimmen erhalten. Es war ein Sieg. Aber das Wahlergebnis zeigte auch: Ein Kandidat der AfD konnte in Großschirma aus dem Stand über 40 Prozent der Stimmen holen.
Volkmar Schreiter muss gehofft haben, dass der Spuk vorbei war, zumindest für die nächsten sieben Jahre. Der Zeitung sagte er, dass er sich auf den Neuanfang freue. Er bekam den Sieg, die Freiheit musste warten.
Als Schreiter im Stadtrat vereidigt wurde, schickte Weigand, der selbst nicht dabei war, einen seiner Wahlkämpfer, er sollte dem Bürgermeister ein Geschenk überreichen: ein Vergissmeinnicht.
Weigand sagt, es sollte ein Versprechen sein, man sehe sich im Stadtrat wieder. Für andere sah es aus wie eine Drohung.
Weigand hielt Wort. Bei den Kommunalwahlen ein Jahr später zogen zwei Frauen und fünf Männer für die AfD in den Stadtrat ein, einer von ihnen war Rolf Weigand. Danach war im Stadtrat von Großschirma nichts mehr, wie es einmal war.
„So lange wir nicht an der Macht sind, gibt es keinen politischen Konsens“
Dass sich etwas verändern würde, war bereits ein paar Jahre vorher zu spüren. Menschen, die lange in Großschirma leben, sagen, dass schon nach der Wende etwas verloren ging, ein Gemeinsinn, der sie hier verbunden hatte und mit dem neuen System einer neuen Mentalität gewichen war: Jeder für sich.
Aber richtig angefangen hatte es vielleicht 2016. Die Pegida-Demos in Dresden, zu denen montags auch Busse aus Großschirma fuhren.
Oder 2017, als ein Mann aus der Stadt, Heiko Hessenkemper, für die AfD in den Bundestag einzog. Hessenkemper arbeitete als Professor an der Freiberger Bergakademie, einer seiner Doktoranden war Rolf Weigand.
Beide traten früh in die AfD ein, Weigand 2013, Hessenkemper kurze Zeit später. An der Uni arbeiteten sie gemeinsam im Labor, Hessenkemper wurde Gesellschafter in Weigands Start-up, neben der Uni verband sie die Politik. Wenn Hessenkemper Reden hielt – bei Pegida, auf Parteitagen, im Bundestag – vertrat er Positionen, die damals selbst in der AfD noch extrem waren. Er redete von „Umvolkung“, ein Begriff aus der NS-Zeit und eine der zentralen Verschwörungsmythen der Neuen Rechten: Die weißen Europäer sollen von Nicht-Weißen ersetzt werden, der „große Austausch“, vorangetrieben von den Eliten. Fragt man Weigand heute, was er damals von Hessenkempers Ansichten gehalten habe, sagt er: Er habe sie zur Kenntnis genommen. Sich klar zu distanzieren, das schafft er nicht.
Nach Großschirma kamen 2016 eine afghanische Flüchtlingsfamilie und drei Syrer.
Ein kleiner Helferkreis fand sich zusammen, um den Menschen eine Wohnung zu besorgen, bei Behördengängen zu helfen. Als einer der Helfer mit einem Afghanen in den Supermarkt ging, rief eine Kundin durch den Laden: „Jetzt sind sie da!“
Irgendwann in dieser Zeit saß Lüder Laskowski, damals Pfarrer in Großschirma, mit Weigand zusammen. Sie kannten sich, wie man sich kennt auf dem Dorf. Laskowski taufte Weigands Kinder, Weigand kam zu ihm in den Gottesdienst. Manchmal sprachen sie darüber, ob man AfD-Mitglied und Christ zugleich sein konnte.
Laskowski aber ist vor allem ein Gespräch in Erinnerung geblieben: Es sei um die Strategie der AfD gegangen. Wo das alles hinführen solle, wollte Laskowski wissen, wenn man Politik nur mit einem Feindbild machen kann. Er erinnere sich noch genau, was Weigand geantwortet habe: „Solange wir nicht an der Macht sind, gibt es keinen politischen Konsens.“
Es war ein Satz, der Laskowski noch Jahre später im Gedächtnis geblieben ist. „Ich denke, politische Arbeit muss zuallererst konstruktiv und für die Menschen da sein, erst recht auf kommunaler Ebene“, sagt er. „Da passte für mich etwas nicht zusammen.“ Weigand behauptet heute, er habe diesen Satz nicht gesagt. Er trat später aus der Kirche aus. Auf Facebook schreibt er über die Seenotrettung im Mittelmeer, für die sich die evangelische Kirche einsetzt: „Wer möchte schon eine Kirche unterstützen, die ihr Seelenheil in der Vergötzung alles Fremden sieht.“
Es ist der Ton, den Rolf Weigand in den sozialen Netzwerken anschlägt, auf Facebook, auf Twitter, auf Telegram. Es ist der Ton, in dem er seine Reden im Landtag hält: Die Grünen sind „Deutschlandhasser“, Gendersprache macht dumm, Migranten sind kriminell.
Volkmar Schreiter bekam davon nur etwas mit, wenn ihm andere davon erzählen. Er hatte lange nur ein altes Tastenhandy. Online machte er nur seine Überweisungen. Irgendwann nutzte er WhatsApp, ein Profil in einem sozialen Netzwerk besaß er nie. Er war ein Bürgermeister alter Schule, der Dinge gerne persönlich regelte. Der die Alten in der Stadt zu ihren runden Geburtstagen besuchte. Wenn jemand starb, verschickte er Trauerkarten mit persönlichen Erinnerungen.
Im Netz findet man nur wenige Bilder von ihm: Schreiter beim Spatenstich für das Logistikzentrum, Schreiter mit einem Fußball unterm Arm und FC-Erzgebirge-Schal um den Hals. Es sind Bilder, die andere von ihm gemacht und veröffentlicht haben. Schreiter selbst hatte kein Interesse daran, seine Arbeit im Netz zur Schau zu stellen.
Im Stadtrat wurde es schwierig, seit die Neuen da waren. Schreiter war immer auf Effizienz aus, suchte den Kompromiss. Gab es Meinungsverschiedenheiten, wurden sie direkt ausgemacht, meistens im nicht-öffentlichen Teil der Sitzung. Das war jetzt vorbei.
Die Stadträte diskutierten stundenlang, oft ohne etwas zu erreichen. Sitzungen, die früher spätestens um 20.30 Uhr beendet waren, dauerten jetzt manchmal bis 23 Uhr. Für ihre Beschlüsse kämpften die Stadträte um jede Stimme. Wer ist auf unserer Seite, wer auf der anderen? Die AfD konnte jeden Beschluss blockieren, sobald sie drei Stadträte auf ihre Seite zog, was ihr immer wieder gelang.
Die Fraktionen sind in Stadträten keine geschlossenen Einheiten. Da sitzen ehrenamtlich engagierte Menschen, keine Politprofis. Sie sind Unternehmer, Bauern, Handwerker, Selbstständige, sie kommen aus unterschiedlichen Ortsteilen. Ein Stadtrat ist eh schon ein komplexer Mix aus Interessen. In Großschirma wurde die Stadtpolitik zu einer sächsischen Version von House of Cards.
Das lag nicht nur an der AfD. Im Stadtrat saß jetzt auch ein Mann von der SPD, der mehr Transparenz in die Kommunalpolitik bringen wollte und in die Politik gegangen war, um die AfD zu verhindern. Das machte es zusätzlich kompliziert, weil er entschlossen war, nicht gemeinsam mit Weigand und seinen Leuten zu stimmen. Über die gemeinsame Liste von SPD und Grüne war außerdem eine Kinderärztin neu dabei, sie stimmte mit der AfD.
In Großschirma war die Brandmauer zur AfD sofort porös. Weigand wurde zweiter stellvertretender Bürgermeister, er bekam drei Stimmen mehr als die AfD Stadträte hatte.
Wer ist Rolf Weigand?
Rolf Weigands politische Karriere hatte inzwischen Fahrt aufgenommen. 2019 wurde Weigand Vorsitzender der Jungen Alternative in Sachsen, der Jugendorganisation der AfD, die im Frühjahr 2023 als gesichert rechtsextremistisch eingestuft werden sollte. Er besuchte Treffen des sogenannten Flügels, man sei „ganz unter Patrioten“ gewesen, schrieb er auf Facebook, bei den Landtagswahlen werde man sich das Land zurückholen – der Gauland-Satz. Dazu ein Foto, das Weigand mit Björn Höcke und Andreas Kalbitz zeigt, dem Brandenburger Fraktionschef der AfD, der ein paar Monate später aus der Partei ausgeschlossen wurde, weil er Mitglied in einer Neonaziorganisation war. Am Wahlkampfstand bekam Weigand Besuch von Alice Weidel.
Weigand war ständig im Wahlkampfmodus. Er kämpfte um politische Ämter und Parteiposten. 2022 wollte er Landrat werden und scheiterte.
In Großschirma machte er Kommunalpolitik, im Landtag stellte er Anfragen, die ihm Schlagzeilen brachten: Mal forderte er eine Auflistung aller Frauen im gebärfähigen Alter nach Nationalitäten und Staatsangehörigkeit. Mal wollte er Plakate aufhängen lassen, gegen eine Initiative der Landesregierung, die über geschlechtliche Vielfalt aufklären soll; auf den Plakaten der AfD war ein Kind zu sehen, es hielt einen Teddy, der einen Penis hatte. Über den Teddy berichteten Medien deutschlandweit. Selbst die Bild-Zeitung nannte die Aktion eine „widerliche Kampagne“.
Das ist der eine Weigand: ein rechter Scharfmacher und Populist. Der andere gibt sich bodenständig, ist der Familienvater, der in seiner Freizeit Hühner und Kürbisse züchtet; seit der letzten Diätenerhöhung im Landtag verschenkt er das Extrageld in Form von Gutscheinen und postet Bilder davon in den sozialen Netzwerken.
Das eine habe mit dem anderen nichts zu tun, sagt Weigand, die Oppositionspolitik im Landtag mit seiner Arbeit im Stadtrat.
Aber von außen betrachtet ist die Trennung nicht so klar: Sein Abgeordnetenbüro hat Weigand im Einkaufszentrum von Großschirma, in den Fenstern kleben blaue Herzen: Unser Land zuerst. Jeder hier kann sehen, wofür er steht. Und man fragt sich, wie das gehen soll: Lässt er seine politischen Ansichten an der Eingangstür zum Bürgerhaus zurück, wenn der Stadtrat tagt?
Da sind zum Beispiel die Videos, die Weigand mit Marie-Thérèse Kaiser dreht, einer jungen Frau, die mal ein Model war, bevor sie zur Vorzeigefrau der Neuen Rechten aufstieg. Sie wurde wegen Volksverhetzung verurteilt. Wenn Kaiser nicht für Weigand arbeitet, dreht sie Videos für den rechtsextremistischen Verein „Ein Prozent“. Auch eine Frau, die lange in der Identitären Bewegung aktiv war, tauchte an Weigands Seite auf: Reinhild Boßdorf aus Nordrhein-Westfalen. Sie besuchten zusammen Burg Kriebstein, Boßdorf unterstützte Weigand im Landratswahlkampf.
Mit diesem Mann, der bestens vernetzt ist in die Parteispitze und Kontakte zur Identitären Bewegung hatte, sollte Volkmar Schreiter Sachpolitik machen: Wo wird eine Photovoltaikanlage aufgebaut? Bekommt die Stadt eine Oberschule? Reicht das Geld für die Schwimmbadsanierung? Und für den Jugendclub?
„Weigand hat Schreiter den Krieg erklärt“
Die anstrengenden Sitzungen hinterließen Spuren. Schreiter war froh, wenn sich mal ein Stadtrat zu Wort meldete und seine Meinung teilte. Dann bedankte er sich. Er wirkte müde. Und er machte Fehler.
Schreiter, der nicht auf Facebook war, schrieb seine Meinung ins Amtsblatt, das der Neutralität verpflichtet ist. Weigand reichte Beschwerden bei der Kreisaufsicht ein.
Insgesamt bekam Schreiter von 2019 bis 2023 acht Dienstaufsichtsbeschwerden, sechs davon stammten von Weigand.
Die politische Großwetterlage, die sich draußen im Land zusammengebraut hatte, war im Stadtrat zu spüren. Die AfD spielte mit den Ängsten der Deutschen, zog die Wütenden und Unzufriedenen an. Sie machte Stimmung gegen „die da oben“. Und dazu gehörte jetzt auch der Bürgermeister von Großschirma.
Der Stadtrat Volker Scharf beschreibt es so: „Weigand hat Schreiter den Krieg erklärt und nur nach der nächsten Gelegenheit gesucht, ihn anzuzählen.“
Margot Schleicher, die stellvertretende Bürgermeisterin, sagt: „Die vielen Dienstaufsichtsbeschwerden haben uns allen nicht gefallen.“ Sie ist seit 35 Jahren in der Kommunalpolitik, sie erinnert sich an keine einzige Dienstaufsichtsbeschwerde in den vierzehn Jahren, die Schreiter davor im Amt war. „Da setzt man sich ein und nur, weil man mal eine Kleinigkeit vergisst, gibt es eine Beschwerde, so kann man nicht miteinander umgehen.“ Sie fragte sich: Was haben die mit ihm vor? Wollen sie ihn loswerden? Dann versuchte sie, Schreiter Mut zu machen.
Dienstaufsichtsbeschwerden haben keine juristischen Konsequenzen. Sie werden geprüft und die Person, gegen die sie gerichtet sind, wird über ihr Fehlverhalten belehrt. Als würde man jemandem auf die Finger klopfen.
Volkmar Schreiter wurde immer wieder auf die Finger geklopft. Für ihn muss sich jedes Mal angefühlt haben wie ein Schlag.
Mit jeder Beschwerde wurde Schreiter ein Stück kleiner
Schreiters Kinder erzählen, wie sehr die Beschwerden ihren Vater gekränkt haben. „Ich habe ihm manchmal gesagt: Vati, du musst dich dagegen wehren“, erzählt Cornelius, „aber das konnte er nicht, er gehörte zu der Generation, die immer alles runterschluckt, nie sagt, so geht das nicht, dazu war er zu gutherzig.“ Auch Ingrid Bleiber, eine Freundin der Familie, die mit Schreiter viele Jahre im Stadtrat saß und lange seine Stellvertreterin war, beschreibt ihn so: „Er war kein Typ für Konfrontationen, das war nichts für ihn. Er hat auch den Leuten geglaubt, die nicht ehrlich zu ihm waren.“
Mit seinem Sohn Konstantin sah Schreiter gerne Filme. „Aguirre, der Zorn Gottes“, „Gladiator“. Er mochte Heldengeschichten, die großen Männer. „Das war ihm irgendwie wichtig“, erzählt Konstantin, „vielleicht weil er selbst immer ein großer Mann sein wollte. Für mich war er das auch.“ Mit jeder Dienstaufsichtsbeschwerde wurde sein Vater ein Stück kleiner.
Im Januar 2023 reichte Weigand seine letzte Beschwerde ein. Auf Facebook nannte er Schreiter ein „bockiges Kleinkind“, er sei als Bürgermeister überfordert und schade dem Amt. Schreiter missbrauche das Bürgerblatt und er, Weigand, erwarte eine Entschuldigung.
Weigand fuhr zu einer Vater-Kind-Kur, er brauchte Erholung, 2023 sollte endlich entspannter werden.
Volkmar Schreiter war noch einmal bei ihm. Er habe ihn gebeten, die Streitereien ruhen zu lassen, erzählt Weigand. Er habe eingewilligt. Vielleicht war es dafür schon zu spät.
Am 3. März wählt Großschirma einen neuen Bürgermeister
An Weihnachten sei noch alles gut gewesen, erzählt Konstantin. Seinem Vater, der aus einem Dorf im Erzgebirge stammte, war Weihnachten immer wichtig. Sie tranken Rotwein, hörten zusammen Rilke-Gedichte. In der Literatur fand Volkmar Schreiter Ruhe. Zu seinem 50. hat er sich selbst einhundert Bücher geschenkt. Feuchtwanger, Hesse. Cornelius, der Zimmermann, sagt, dass sein Vater handwerklich nicht sehr begabt war. „Sein Werkzeug waren Füller und Papier.“
Im Mai sah Konstantin seinen Vater wieder. Volkmar Schreiter war dünn geworden, er sagte, dass es ihm schwerfalle, einzuschlafen. Er habe davon geredet, als Bürgermeister zurückzutreten. Endlich die Weltreise machen, vielleicht zu Josefine nach Magdeburg ziehen. In Großschirma wollte er nicht mehr leben, wenn er kein Bürgermeister mehr ist.
Es war ein anderer Mensch, der da saß. „Auf einmal war mein Vater weg“, sagt Konstantin, „stattdessen war da nur noch eine Hülle.“
Volkmar Schreiter war krankgeschrieben und konnte dennoch nicht loslassen. Er rief oft bei seiner Stellvertreterin an. Sagte seiner Frau, er würde spazieren gehen und schaute dann im Rathaus vorbei. Einmal sah er, dass in seinem Büro die Regale leergeräumt waren. Der Fußboden sollte neu gemacht werden. Er muss gedacht haben, dass sie ihn schon abgesetzt hatten.
Im September besuchte er eine Reha, danach wollte er wieder arbeiten gehen. Der 16. Oktober 2023 sollte der Tag sein, an dem Volkmar Schreiter die erste Stadtratssitzung seit einem halben Jahr leitet. Am Morgen ging er ins Rathaus. Es sei ein gutes Gespräch gewesen, sagen Margot Schleicher und Rolf Weigand, die beiden Stellvertreter. Sie hätten besprochen, wie sein Wiedereinstieg aussehen könnte. Gemeinsam hätten sie entschieden, es langsam angehen zu lassen. Er ging nach Hause, aß zu Mittag, ging spazieren. Am Abend, während die Stadtratssitzung lief, die er hatte leiten wollen, nahm er sich das Leben. Volkmar Schreiter wurde 62 Jahre alt.
Am 3. März wählt Großschirma einen neuen Bürgermeister. Es treten an: Gunther Zschommler, ein 60 Jahre alter Landwirt von der CDU. André Erler, ein Polizist, der neu ist in der Politik. Und Rolf Weigand, der Profipolitiker von der AfD. (almö)
Update 16. Februar: In einer früheren Version hieß es, Rolf Weigand habe Volkmar Schreiter 2018 am Telefon zur gewonnenen Wahl gratuliert. Das ist falsch. Richtig ist, Rolf Weigand gratulierte Volkmar Schreiter persönlich im Rathaus. Das haben wir korrigiert.
Update 4. März: Großschirma hat inzwischen einen neuen Bürgermeister gewählt. Laut vorläufigem Wahlergebnis holte Rolf Weigand 59,43 Prozent der gültigen Stimmen und setzte sich damit im ersten Wahlgang durch. Er ist damit der erste Bürgermeister Sachsens mit einem AfD-Parteibuch.







