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Artikel zum Thema: Ernst Busch

Special31
5 min.
So weit weg
Für Christiane Neudecker fand die Wende nicht statt. Jedenfalls nicht in ihrem eingestaubten Tagebuch, das sie nach Einträgen über das Ereignis durchforstete - obwohl sie nicht unpolitisch war, damals mit 15 Jahren. Christiane Neudecker ist die dritte der 20 Schriftsteller, die sich in einer Serie des MDR und der "Freien Presse" 20 Jahre danach an die Zeit rund um den Mauerfall erinnern. Die Wende fand nicht statt. Ich suche sie zwischen den Seiten meiner eingestaubten Tagebücher, blättere hin und her, fahre mit dem Zeigefinger die Zeilen ab, entziffere die krakeligen Worte und Sätze meiner früheren Schrift. Ich suche und suche, aber ich kann sie einfach nicht finden. 15 war ich damals. Wir waren nicht unpolitisch, Tschernobyl hatte uns aufgescheucht. Wir gingen auf Ostermärsche, schrieben Artikel gegen Massentierhaltung und hörten auf, Fleisch zu essen. Wir demonstrierten für den Regenwald und gegen Atomkraft, wir schrieben empörte Leserbriefe an alle Zeitungen, die Werbung für McDonalds schalteten, sammelten Unterschriften für und gegen Dinge und wollten jeden bekehren. Aber die Wende gibt es in meinen Aufzeichnungen von 89/90 nicht, ich finde sie nirgends, so sehr ich auch suche. Diskussionen mit Lehrern sind in diesen ehemals so quietschbunten, langsam ausbleichenden Tagebüchern verzeichnet, Klassenausflüge, Urlaub mit den Eltern, Feiern mit Freunden und (natürlich!) jedes Lächeln des Jungen aus der Oberstufe, der sich endlich für mich zu interessieren begann. Dass wir überlegten, ein Schuljahr in Neuseeland zu verbringen, steht da, dass wir irgendwann mal für Greenpeace in die Antarktis wollten oder in Afrika bei Brunnenbohrungen helfen. Die Welt schien so nah - aber der Osten, der war so weit weg.Erst später finden sich Randbemerkungen. Die Wiedervereinigung war uns, so lese ich, nicht ganz geheuer. Etwas daran erschreckte uns, wir hatten Zoff mit den wenigen Glatzen und Bomberjacken aus unserem Vorort und Angst vor einem großdeutschen Reich. Also zogen wir in der Innenstadt Schleifen um das Rathaus und brüllten: "Ob Ost, ob West, nieder mit der Nazipest". Und dann pinselten wir nachts heimlich "Kein Blut für Öl" an die Schulmauern und das war uns genauso wichtig.Auf der Nürnberger Burg gab es dann irgendwann ein Seminar zur Gründung einer ersten gesamtdeutschen Jugendzeitung. Jetzt müsste ich mich erinnern. Ob mir die Teilnehmer aus Jena, Gera, Erfurt fremd vorkamen. Aber darüber finde ich nichts. Ich lese von Namen, lese wer wen angelächelt hat, wer auf wen eifersüchtig war - aber nirgends steht, wer woher kam. Uns war das nicht wichtig. Als ich dann mit Anfang zwanzig nach Ost-Berlin zog, schrieb ich kein Tagebuch mehr. Aber ich weiß noch, dass ich mich schämte. Weil ich die Dimension meines Hier-Seins nicht begreifen konnte, während doch die älteren meiner Besucher von daheim immer so staunende Sätze sagten, wie: dass das jetzt möglich ist! Oder: dass du tatsächlich da wohnst! Und: unfassbar ist das!Inzwischen ist all das längst Normalität. Nur manchmal gibt es diese Momente, in denen wir uns erinnern. Wir sitzen zusammen und reden von unserer Vergangenheit. Und plötzlich gibt es da eine Trennlinie, werden mir einige meiner Freunde in ihrem Erleben ganz fremd. Der Freund, der in einem Nebensatz sagte: weil ich ja über Ungarn geflohen war. Die Tänzerin, die Zahnpasta aß, um dem Gewichtswahn der Staatlichen Ballettschule zu entsprechen. Die Freundin, die von ihrem Lieblings-See erzählte, diesem ehemals geteilten Grenz-See, den ihre Eltern noch heute täglich mit dem Fahrrad umrunden, weil sie noch immer nicht glauben können, dass das jetzt geht.Dann werde ich ganz still und weiß gar nicht, wie ich es ihnen sagen soll. Dass sie aus einem Land kommen, dass es für mich damals kaum gab. Weil es weiter weg schien als der Regenwald.Von Christiane NeudeckerFoto: Peter von Felbert/Luchterhand LiteraturverlagZur PersonDie Schriftstellerin Christiane Neudecker wurde 1974 in Erlangen geboren. Sie hat Regie an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch" Berlin studiert und an verschiedenen Theatern sowie mit unterschiedlichen Truppen Inszenierungen erarbeitet. Mit "Nirgendwo sonst" legte sie 2008 ihr Romandebüt vor. Zuvor hatte Christiane Neudecker in Zeitschriften bereits Kurzgeschichten veröffentlicht. (UT)Bisher erschienene BeiträgeWendegeschichte 11 von Jana HenselWendegeschichte 8 von Annett GröschnerWendegeschichte 7 von Hans-Joachim MaazWendegeschichte 5 von Josef HaslingerWendegeschichte 4 von Joachim WaltherWendegeschichte 2 von Clemens MeyerWendegeschichte 1 von Kerstin HenselDer Auftakt-Beitrag zur Serie