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Den Tränen so nah: Unser Autor Karsten Kriesel ist tot

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Der Dramaturg, Kolumnist und Musikjournalist starb plötzlich und unerwartet im Alter von 41 Jahren. Als Theaterkenner und Szenekultur-Experte war er sachsenweit geschätzt - und darüber hinaus.

Nachruf.

Leipzig/Chemnitz Hochkultur? Was für ein arroganter Begriff, geboren aus engen Gedanken. Weil diese Feststellung so offensichtlich ist, pflichtet ihr wohl fast jeder mit der Kulturszene halbwegs verbundene Mensch auch gern bei - um sich dann im nächsten Moment doch wieder (schließlich versteht man doch, was gemeint ist!) auf dessen bürgerlich eingeübte Tragfähigkeit zu verlassen. Karsten Kriesel ist das in seinen Texten nie passiert, weil es ihm schon beim Denken nie passierte. Möglich, dass ihm der fast noch schlimmere Begriff "Subkultur" zwischen dick mitschwingenden Gänsefüßchen rausrutschte - wenn er glaubte, sich bürgerlich ausdrücken zu müssen.

Dabei musste er das eigentlich nie. Weil er in Musik, Film, Literatur oder Theater immer nur das eigentlich Berührende sah und dessen Form ihm nur Verpackung war. Weil er das Bewegende suchte, um das Beseelte wieder und wieder aufzuspüren. Diesen Funken, der sich ins Gemüt brennt, beim Pogo wie im Schauspiel, und der uns von dort aus immer wieder Kopf und Sinne durchzuschütteln vermag.

Weil es davon prinzipiell in der Bluetooth-Box eines Straßenbengels nicht weniger zu finden gibt als im Schauspielhaus, war es stete Freude, die Texte von Karsten zu lesen. Denn er war in der Lage, alle Arten dieser Funken zu finden, sie nachzuempfinden - und von ihrem Feuer zu erzählen, wie es nur wenige können. Doch leider müssen wir ab sofort
allein weiter nach diesen suchen: Karsten Kriesel ist am 1. März in Leipzig gestorben.

Sehr gering der Trost, dass er kurz zuvor beim letzten Konzertbesuch seines Lebens von einer Band schrieb, die er wohl vor allem deshalb so schätzte, weil auch in ihrer menschenlieben Welt offene Gedanken gefühlig frei marodieren und dabei alle Scheuklappen und Genregrenzen beiseite treten können: Tränen. Was anderes sollte man jetzt in den Augen haben?

Karsten kam am 20. Juni 1982 in Karl-Marx-Stadt zur Welt und wuchs in der Stadt auf, eine Jugend in den Baseballschlägerjahren der Nachwendezeit. Sein Abitur legte er entsprechend in Chemnitz ab - da waren die Wurzeln für sein weites Wesen schon gelegt: Als verspätete "Leseratte" tauchte er so leidenschaftlich in Literatur und Theater ein, wie er die Faszination der damals in der Stadt pulsierenden Untergrundkultur in Klubs wie dem AJZ oder Kraftwerk aufsog. Gothic, Hardcore und Punk hatten es ihm gleichermaßen angetan, die Überschneidungen und Brüche reizten ihn von Anbeginn an mehr als die vermeintlich klaren Szenecodes mit ihren letztlich ebenso stabilisierenden wie einengenden Regeln: Karsten war ein Mensch, der offen auf andere Menschen zuging, stets interessiert am Gedanken, am Argument.

Wie viele spannende, bereichernde Gespräche man mit ihm führen konnte, deren Ausgangspunkt nicht selten eigentlich eine Diskrepanz war oder ein Vorurteil. Austauschen und Einigen, das ging mit ihm immer, und weil es ihm immer um besagten Funken ging, musste sich dazu niemand verbiegen, wobei die Annäherung und der Perspektivwechsel so oft bereichernd waren. Auch, weil der freundliche Mann mit dem großen Herz für die vielen Schrullen seiner Mitmenschen so unfassbar viel wusste über alle Arten von Kultur und so vieles daran liebte. Ein Gespräch mit Karsten war immer ein Gewinn - weil er damit nie hausieren ging; sich nicht aufplusterte in einem Metier, in dem es an Egos sonst nicht mangelt.

Nach dem Abi hatte er Theaterwissenschaften und Dramaturgie in Leipzig studiert, wo er seither seine Zelte aufgeschlagen hatte. Er arbeitete als Regieassistent, entwickelte Stücke für diverse Bühnen und betreute Bands in der legendären "Moritzbastei" - bis er anfing, für Zeitungen und später auch Magazine zu schreiben. Für die "Freie Presse" verfasste er viele Jahre regelmäßig Musik- und Theaterkritiken, Kulturbetrachtungen und erfrischende Kolumnen. Karsten hinterlässt seine Frau, einen Sohn und zwei Töchter.

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