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100-jähriger Blogger erzählt vom Krieg und einem blauen Auge

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Peter Meisen ist vermutlich Deutschlands ältester Blogger. Seine Erinnerungen reichen bis in die 1920er-Jahre zurück. Er weiß deshalb auch, wie sich die Soldaten im Ukrainekrieg fühlen.

Roetgen.

Vor vielen Jahren kam mal ein Nachbar zu Peter Meisen an die Tür und bat um seine Unterschrift, um für den Eifelort Rott ein schnelleres Internet einzufordern. "Ich kenne nichts vom Internet, und ich möchte es auch nicht", erwiderte er damals. Er sei zu alt dafür. Mittlerweile ist er 100 - und vermutlich Deutschlands ältester Blogger.

"Opa Peter, erzähl doch mal..." heißt der Blog, den er seit einigen Jahren betreibt. Angefangen hatte alles damit, dass er ein Tablet geschenkt bekam. Obwohl er schon Mitte 90 war, eignete er sich die neue Technik an. Und dann begann er, für seine beiden Söhne, seine vier Enkel und sechs Urenkelinnen Geschichten aus seinem Leben aufzuschreiben. Das stieß bei der Familie auf so viel Interesse, dass der Gedanke entstand, es auch anderen Menschen zugänglich zu machen. So wurde der Blog geboren, der inzwischen rund 75.000-mal aufgerufen worden ist.

Peter Meisen, der von Beruf Elektrotechniker war, ist ein guter Erzähler. Das merkt man schnell, wenn man ihm in Rott, einem Ortsteil von Roetgen an der Grenze zu Belgien, gegenübersitzt. "Geistig bin ich noch fit, aber der Körper ist nicht dafür geschaffen, so alt zu werden", klagt er. "Es sind keine Ersatzteile da." Er kann noch laufen, aber nur mit Rollator. Neulich ist er gestürzt und mit dem Kopf auf die Nachttischkommode aufgeschlagen - deshalb hat er jetzt ein blaues Auge. Auch darüber hat er geschrieben.

Immerhin lebt er immer noch in einem von ihm selbst konstruierten Holzhaus. Noch vor vier Jahren hat er seine Führerscheinprüfung wiederholt - und bestanden. Die Familie konnte es kaum glauben, aber er hat es schwarz auf weiß.

Meisen ist Jahrgang 1922. Er stammt aus dem winzigen Ort Titz im Rheinland. Dort ist er zur Zeit der Weimarer Republik in einer streng katholischen Familie aufgewachsen. Sie hatten nicht viel Geld damals, seine ersten richtigen Schuhe bekam er erst mit zehn Jahren zur Erstkommunion. Davor trug er Holzschuhe. Zu seinen frühesten Erinnerungen gehört, wie er seine Mutter weinen sah. "Ich wusste damals nicht, warum. Heute weiß ich, was die Mutter mitgemacht hat."

Die Familie war gegen die Nazis eingestellt, was dazu führte, dass die Amerikaner Meisens Vater nach dem Krieg prompt zum Bürgermeister von Titz ernannten. In seinem Blog berichtet Peter Meisen oft von seinen Erlebnissen in der Nazizeit und im Krieg, den er als Wehrmachtssoldat miterlebte. Dass jetzt wieder Krieg in Europa herrscht, erschüttert ihn sichtlich.

"Man kann es gar nicht beschreiben, mit welcher Angst die Soldaten an der Front stehen und um ihr Leben zittern", sagt er. "Eigentlich müsste jeder Mensch Krieg mitmachen, damit er weiß, was Krieg bedeutet. Wer kann über Krieg reden, wenn er nicht dabei gewesen ist?" Er kramt in einer Tasche und zieht einen kleinen Rosenkranz hervor, wie ihn Katholiken zum Gebet verwenden. Den hat er 1932 bekommen und sein ganzes Leben immer bei sich gehabt, auch im Krieg.

Wenn er jetzt die Bilder aus der Ukraine sieht, denkt er: "Ich weiß, was die Leute mitmachen, sowohl die Soldaten als auch die Bevölkerung." Er wünscht sich, dass jemand den russischen Präsidenten Wladimir Putin aus dem Verkehr zieht.

Meisen ist gläubig und schreibt deshalb oft über christliche Feste wie Weihnachten oder Heilige Drei Könige. Gleichzeitig fordert er von der katholischen Kirche Reformen ein. Zum Beispiel ist er dafür, dass der Zölibat - die verpflichtende Ehelosigkeit der Priester - abgeschafft wird. "Petrus war auch verheiratet, und das hat Jesus überhaupt nicht gestört." Dem verstorbenen Papst Benedikt macht er zum Vorwurf, nicht entschieden genug gegen sexuellen Missbrauch vorgegangen zu sein. "Bei diesem verantwortungsvollen Posten muss man die Courage haben, einzugreifen", findet er.

Der Blog hilft Peter Meisen dabei, seinen Tag zu füllen. "Es hat mir Auftrieb gegeben. Das kommt alles aus dem Kopf, ich habe kein Tagebuch oder so." Dass Menschen das auch noch lesen wollen, macht ihn dankbar und stolz. "Ich freue mich, dass ich etwas machen kann, was den Leuten Spaß macht. Das ist mein Lebensinhalt." Inzwischen kommt es sogar vor, dass seine Follower ihn fragen, wann denn endlich der nächste Beitrag komme.

Schade ist, dass seine Frau das alles nicht mehr erlebt. Sie ist schon vor 28 Jahren gestorben. Seitdem sei sein Leben nicht mehr so schön wie vorher, sagt Meisen. "Ich vermisse sie sehr. Jeden Tag."dpa

www.freiepresse.de/meisen

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