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Special31
5 min.
Meine Bilder
1989 war Clemens Meyer zwölf Jahre alt. Seine Erinnerungen an den Mauerfall sind ein "Durcheinander" von Bildern: Plätze voller Menschen, Straßen mit Menschenmassen, Gespanntheit, Angespanntheit, Lichter, tausende Kerzen, Blaulichter... Clemens Meyer ist der zweite der 20 Schriftsteller, die sich in einer Serie des MDR und der "Freien Presse" 20 Jahre danach an die Zeit rund um den Mauerfall erinnern. 1989 war ich zwölf Jahre alt. Ich würde also nicht von mir behaupten, ein Experte in Sachen "Friedlicher Revolution" zu sein. "Friedliche Revolution" - eine Sprachkreation, die ohnehin Misstrauen bei mir auslöst, auf Grund ihrer inflationären und oftmals lauten, fast blechern klingenden Verwendung in diesen Tagen. Mehr Andacht und Demut wünschte ich mir da, noch mehr Misstrauen, wenn sie in Zusammenhang mit einem Genitiv benutzt wird, zum Beispiel: "Platz der friedlichen Revolution". Aber vielleicht ist es ja doch die treffendste Sprachkreation für die Vorgänge damals. Vielleicht wird es nie eine vollkommen einleuchtende Bezeichnung geben, das ist ja oft so beim Rückblick auf die großen Überschriften der Geschichte …Möglichweise bin ich ja im Vorteil, zwölf Jahre im Herbst 1989, keinerlei bewusste Verstrickungen in "vorrevolutionäre" Zustände, keinerlei Parteizugehörigkeit. Ich kann sogar von mir behaupten, auf Grund eigener, vielleicht frühreifer, Entscheidung, nicht Mitglied der Pionierorganisation gewesen zu sein. Keinerlei innere Zwänge, mich für oder gegen etwas zu entscheiden oder - am plausibelsten - mich erst einmal wegzuducken und abzuwarten, was denn weiter passiert. Was mir bleibt, auch eindrücklich bleibt, das Durcheinander verschiedener Erinnerungen, Bilder: Irgendwann im Herbst, ich auf dem Weg durch die Stadt. Ich bin Mitglied einer Rezitatorengruppe, wir treffen uns jeden Montag in einem Kulturhaus in der Nähe des Waldplatzes. Zwischen 19 und 20 Uhr muss das gewesen sein, der Heimweg. Vorbei an Blechbüchse und Bahnhof, es ist schon dunkel. Leute sammeln sich in kleineren und größeren Gruppen, es ist seltsam still, eine Gespanntheit, vielleicht auch Angespanntheit ist zu spüren. Da bleibe ich stehen, das interessiert mich, da fahre ich nicht nach Hause. Da laufe ich durch die Stadt, da gerate ich in Strömungen, werde mitgetragen, mitgerissen wäre hier das falsche Wort. Da ist der Vorplatz der Kirche, voller Menschen. Da ist Polizei an den Straßenrändern, da laufe ich dann eine Weile mit in dem Strom, das muss noch vor den gewaltigen Menschenmassen im Oktober und November gewesen sein. Kerzen, daran erinnere ich mich, hunderte Kerzen, vielleicht Tausende? Lichter von Autos, Blaulichter, Bremslichter, Blinklichter, Scheinwerfer, die trüben Lichter des damals noch geheimnisvollen und düsteren Bahnhofgebäudes, der Schein der Lichter auf der Metallhaut des Kaufhauses, wenn es regnete, der Widerschein der Lichter auf dem Pflaster, die Dunkelheit der Seitenstraßen, heute denke ich "eine Reise durch die Nacht". Dann später, Versammlungen in der Schulaula, Reden der Direktorin, des Parteisekretärs, des Pionierleiters, "Schüler, Pioniere! Bleibt fern diesen Auswüchsen!" oder so ähnlich. Da erzählen sie doch tatsächlich, die Fußgängerbrücke könnte einstürzen, auf Grund der vielen Menschen, die sich dort sammeln. Wochen später, ich mit meiner Mutter und meiner Schwester vor der Stasizentrale, wir tragen Spruchbänder "Keine Gewalt", da muss bei uns Angst gewesen sein, dass das alles in Chaos und Gewalt endet. Aufs Dach des Hauptbahnhofs war ein schweres Maschinengewehr montiert, lese ich Jahre später irgendwo. Eigentlich zu spektakulär um wahr zu sein, die chinesische Lösung wirklich so nah damals? Bilder von Zerquetschten unter Panzerketten, blutdurchtränkte Zeltbahnen, das muss im Fernsehen gewesen sein, Platz der friedlichen… himmlischen, meine Direktorin, die heute noch politisch aktiv ist, hatte ein Gebiss wie Egon Krenz, das sehe ich immer noch vor mir, also die Hauer meiner Direktorin, "Großmutter warum hast du so große Zähne?" stand auf einem Plakat mit einem versuchten Krenzportrait. Habe ich das auch im Fernsehen gesehen oder live vor Ort? Mich interessieren als Schriftsteller Brüche, Stürze, Gewalten, das Wanken von Imperien, Shakespearsche Tragödien. Dafür hat es 89 viel Rohstoff gegeben, eine ganze Führungsriege, der das Volk abhanden kam, deren Elfenbeintürme plötzlich zu Staub zerfielen. Jetzt geht das Pathos mit mir durch, dabei sprach ich doch von Andacht und Innehalten angesichts der Erinnerungen, die, wie das nun mal so ist, mehr und mehr verschwinden werden, den Geschichtsberichten weichen. Vielleicht bin ich ja einmal, wenn ich alt genug werden sollte, einer der letzten Augenzeugen. Komische Vorstellung. Service:Hören kann man diese Kolumne am 3. September bei "Figaro" im Radioprogramm des MDR - und zwar zwischen 6 und 9 Uhr im "Journal am Morgen" sowie zwischen 16 und 19 Uhr im "Journal am Nachmittag".Bisher erschienene BeiträgeWendegeschichte 11 von Jana HenselWendegeschichte 9 von Martin BeckerWendegeschichte 8 von Annett GröschnerWendegeschichte 7 von Hans-Joachim MaazWendegeschichte 5 von Josef HaslingerWendegeschichte 4 von Joachim WaltherWendegeschichte 1 von Kerstin HenselDer Auftakt-Beitrag zur Serie