Regionale Nachrichten und News mit der Pressekarte
Sie haben kein
gültiges Abo.
Regionale Nachrichten und News
Schließen

Leipziger Anthropologin: Glaube an Mutterinstinkt „ist wirklich sehr gefährlich“

Schon gehört?
Sie können sich Ihre Nachrichten jetzt auch vorlesen lassen. Klicken Sie dazu einfach auf das Play-Symbol in einem beliebigen Artikel oder fügen Sie den Beitrag über das Plus-Symbol Ihrer persönlichen Wiedergabeliste hinzu und hören Sie ihn später an.
Artikel anhören:

Sind Frauen von Natur aus die besseren Eltern? Und welche Geschlechterrollen gibt es anderswo auf der Welt? Die in Leipzig forschende Anthropologin Heidi Colleran gibt im Interview Antworten.

Freie Presse: Wenn ein Kind im Körper einer Frau heranwächst, hat die Mutter dann automatisch eine stärkere Bindung zum Kind als der Vater?

Heidi Colleran: Das ist eine wirklich gute Frage, und ich denke, es gibt darauf keine einfache Antwort. Ja, natürlich: Die Frau bringt das Kind zur Welt. Aber alles, was nach der Geburt geschieht, kann von der Gesellschaft beeinflusst werden. Wir wissen, dass nicht nur die Mutterschaft, sondern auch die Vaterschaft mit hormonellen, neuronalen und verhaltensmäßigen Veränderungen verbunden ist. Das hängt davon ab, wie viel Kontakt und Interaktion die Eltern mit den Kindern haben. Wir wissen also, dass das extrem flexibel ist. Die Welt, in die das Baby kommt, wird von den Menschen geformt. Kinder werden nicht nur von ihren Müttern aufgezogen, sondern in unterschiedlichen Konstellationen und das überall auf der Welt und im Laufe der Menschheitsgeschichte.

Andere Länder – andere Sitten

FP: Ist das Stillen ein weiterer Aspekt, der Frauen im Vergleich zu Vätern einen Vorteil verschafft?

Colleran: Ich glaube, diese Fragen sagen mehr darüber aus, wie wir denken, als darüber, was wirklich ist. Wir offenbaren damit unsere Ängste in Bezug auf Bindung und Elternschaft, und sie zeigen unsere kulturellen Annahmen, dass Männer den Frauen in Bezug auf die Bindung zu den Kindern unterlegen sind. Natürlich setzt das Stillen eine Menge biomolekularer Prozesse und hormoneller Veränderungen in Gang. Ja, Männer stillen nicht, aber sie können das Baby zum Beispiel mit der Flasche füttern. Und wir wissen, dass das in vielen Fällen auch in Ordnung ist. Das sind nicht die Fragen, die wir stellen sollten. Denn sie sind bereits mit der Vorstellung belastet, dass Männer einfach nicht so gute Väter sein können, wie Frauen Mütter sind. Doch das ist ein Produkt unserer Kultur. Es geht also nicht nur um eine biologische Regel, die besagt: Frauen sind so und Männer sind so. Wir können nicht so über das heutige menschliche Verhalten denken. Ich möchte Sie vielmehr zum Nachdenken darüber anregen, wie sich die Vaterschaft in den verschiedenen Kulturen der Welt unterscheidet. Es gibt nicht nur einen Weg, es richtig zu machen.

FP: Was meinen Sie damit?

Colleran: Im Westen denken wir, es gibt nur einen Vater. Und das war’s. Es ist also eine Art Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen einem sozialen Vater und einem biologischen Vater. Mit biologischem Vater meinen wir den Mann, von dem das Sperma stammt. Der soziale Vater ist der Mann, der im Leben des Kindes eingebunden ist, zum Beispiel in die Erziehung. Für uns ist das öfters das Gleiche. Aber das ist nicht überall so. In der Tat ist das wahrscheinlich in den meisten Gesellschaften nicht der Fall. Deshalb verwenden Anthropologen verschiedene Begriffe dafür. Wir sprechen über den Unterschied zwischen einem Pater, dem sozialen Vater, und einem Genitor, dem biologischen Vater. Ein Beispiel dafür sind die Himba in Namibia. Bei den Himba wird der biologische Vater des Kindes einer Frau als der Genitor des Kindes anerkannt. Aber solange er nicht mit der Frau verheiratet ist, ist er nicht der soziale Vater. Wir wissen also, dass bis zu 70 Prozent der verheirateten Paare in dieser Gesellschaft mindestens ein Kind aufziehen, das von einem Mann außerhalb der Ehe gezeugt wurde. Dieser Mann ist als Erzeuger, aber nicht als sozialer Vater anerkannt. Der soziale Vater ist der Mann, der mit der Frau verheiratet ist. Und das ist kein Problem. Es ist nicht dasselbe wie ein Stiefvater im Westen. Es ist ein Vater. Er hat soziale Rechte, der Erzeuger aber nicht.

FP: Sind die Himba ein Einzelfall oder gibt es noch weitere Beispiele dafür?

Colleran: Viele Gesellschaften in Südamerika praktizieren die partielle Vaterschaft. Das ist eine kollektive Form der Vaterschaft, bei der mehrere Väter gleichzeitig anerkannt werden. Jeder Mann, der in dem Jahr vor der Geburt des Kindes Sex mit einer Frau hatte, trägt zur Vaterschaft dieses Kindes bei. Alle Männer haben sozusagen mit ihrem Sperma zur Entwicklung des Kindes beigetragen. Diese Gesellschaften haben ein eigenes biologisches Modell, bei dem es nicht um Genetik geht. In einigen historischen und gegenwärtigen Populationen Afrikas heiraten auch Frauen andere Frauen, wenn es keine geeigneten Männer gibt. Die Frau muss dafür eine Art Ritual durchlaufen, um als Mann anerkannt zu werden. Danach nimmt sie nicht mehr am täglichen Leben der Frauen teil, sondern an der rituellen Kultur der Männer. Dadurch kann sie eine Frau heiraten und der Vater ihrer Kinder werden. Diese Dinge sind also nicht durch die Biologie festgelegt.

Gibt es einen Mutterinstinkt?

FP: Sie haben zu Beginn des Gesprächs über hormonelle Veränderungen bei Vätern gesprochen. Was heißt das genau?

Colleran: Als Evolutionsanthropologin beschäftige ich mich mit der kulturellen Evolution menschlicher Gesellschaften und der menschlichen Fortpflanzung. Ich zögere deshalb, eindeutige Aussagen zur Hormonforschung zu treffen. Was wir aber im Allgemeinen wissen, vor allem von westlichen Bevölkerungsgruppen: Die Hormone Oxytocin, Vasopressin und Testosteron verändern sich bei Vätern je nach dem Grad ihres Kontakts mit ihren Kindern. Diese biologische Flexibilität zeigt also bereits, dass es kein festes, unveränderliches biologisches System gibt.

FP: Wie sieht das bei Müttern aus?

Colleran: Es gibt eine ganze Kaskade von Hormonen, die sich während der Schwangerschaft, der Geburt und der Stillzeit verändern. Oxytocin zum Beispiel, das Liebeshormon, von dem immer wieder die Rede ist. Es ist ein Bindungshormon, das positive, emotionale Zustände und eine umfassende Euphorie erzeugt. Es wird auch eingesetzt, wenn die Wehen eingeleitet werden. Oft wird den Frauen direkt ein Tropf mit Oxytocin verabreicht, um die Wehen zu unterstützen. Es ist danach auch sehr wichtig für die Bindung.

FP: Im Zusammenhang mit Mutterschaft ist auch immer wieder vom Mutterinstinkt die Rede. Ist das ein Mythos?

Colleran: Das ist eine gute Frage. Es gibt diese Vorstellung, dass Mütter instinktiv wissen, was zu tun ist. Ich glaube aber, dass das ein Mythos ist. In den meisten Kulturen der Welt haben Mütter andere Mütter um sich, die ihnen beim Lernen helfen. Und die Vorstellung, dass Frauen in der Lage sein sollten, all diese Dinge instinktiv zu tun, ist nicht richtig. Wir müssen lernen, wie man stillt. Wir müssen lernen, wie man eine Windel wechselt. Wir müssen lernen zu verstehen, weshalb unsere Kinder weinen. Und die Vorstellung, dass das irgendwie programmiert ist, ist keine hilfreiche Vorstellung für Frauen. Ich glaube, das ist wirklich sehr gefährlich, denn wenn Frauen etwas falsch machen, geben wir ihnen die Schuld. Und das ist absolut nicht fair. Also: Nein zum Mutterinstinkt! Warum tun wir das Frauen an? Das ist eine feministische Frage.

FP: Passend dazu noch einmal ein Blick auf die traditionellen Geschlechterrollen, die immer noch nachwirken - der Mann geht arbeiten und verdient das Geld, die Frau kümmert sich um das Kind.

Colleran: In Deutschland. (hebt den Zeigefinger und lacht)

FP: In Deutschland. Ja, richtig. Würden Sie sagen, dass es eine evolutionäre Grundlage für die traditionellen Geschlechterrollen gibt, oder ist das nur etwas, das Menschen geschaffen haben, um Frauen zu unterdrücken?

Colleran: Sie haben Ihre eigene Frage beantwortet. Natürlich, das Patriarchat. Die Vorstellung, dass Männer sich nicht um die Kinderbetreuung kümmern müssen, ist eine Entscheidung - die wir alle gemeinsam getroffen haben. Und warum sollten wir nicht in der Lage sein, das zu ändern? Wenn man in einem patriarchalischen System lebt, fühlt es sich natürlich an. Und das ist etwas, das wir immer wieder hinterfragen sollten. Außerdem: Was bedeutet „natürlich“ überhaupt? Und zweitens: Selbst, wenn es so etwas wie eine natürliche Komponente gäbe, warum sollten wir nicht in der Lage sein, unsere Gesellschaft anders zu organisieren? Es liegt an uns, etwas zu verändern, und wir sind dazu in der Lage. Die menschlichen Gesellschaften haben sich seit Jahrtausenden in verschiedene Richtungen entwickelt. Das Patriarchat ist eine sehr hartnäckige, mächtige, soziale Organisation. Aber es ist nicht die einzige Möglichkeit. Es muss nicht die Einzige sein. (sesa)


Zur Person: Heidi Colleran

Heidi Colleran ist Anthropologin und arbeitet am Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig. Sie beschäftigt sich vor allem mit den Beziehungen zwischen Fortpflanzungsverhalten, Kultur und Bevölkerungsdynamik.

Dieser Text ist Teil einer Beitragsreihe. Die Volontäre der „Freien Presse“ haben in einem Projektmonat rund um das Thema „Arbeitsteilung in jungen Familien“ recherchiert. Die Familienporträts, Experten-Interviews, eine Datenanalyse, ein Quiz und die Sicht der jungen Reporter auf das Thema sind auf der Übersichtsseite zu finden. Die Arbeit der Volontäre könnt Ihr auch auf Instagram und Twitter verfolgen.

Icon zum AppStore
Sie lesen gerade auf die zweitbeste Art!
  • Mehr Lesekomfort auch für unterwegs
  • E-Paper und News in einer App
  • Push-Nachrichten über den Tag hinweg
Nein Danke. Weiter in dieser Ansicht.

Das könnte Sie auch interessieren