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Ein Chemnitzer besiegt die Krankheit ME/CFS: Ein medizinisches Wunder?

Christoph Bauer liegt den ganzen Tag im abgedunkelten Zimmer, duscht im Sitzen, kann kaum stehen. Seine Krankheit heißt ME/CFS. Wie er nach eineinhalb Jahren ins Leben zurückkehrt. Und was ein Experte dazu sagt.

Chemnitz.

Als er Heiligabend in die Kirche lief, fielen ihm Menschen um den Hals, die er kaum kannte.

Ein paar Tage danach ging er in seine Stammkneipe, das "Sonnenbergstübel" auf dem Chemnitzer Sonnenberg, ein gemütliches Lokal mit holzvertäfelten Wänden, in dem er früher mittwochs Darts gespielt hat. Da stand er plötzlich am Tresen. Manche müssen gedacht haben, es liegt am Schnaps. Als würde der Alkohol ihre Sinne täuschen und sie würden sich Christoph einbilden. Christoph Bauer sah aus wie immer. Ein bisschen Bart, frisch frisiert und blass vielleicht, es war ja Winter. Er warf ein paar Pfeile, dann musste er sich wieder setzen, weil er noch schwach war.

Überall, wo er wieder auftaucht, passiert ungefähr das: Alle sind überrascht, manche skeptisch. Kann das sein? Lange stand Christoph Bauer dem Tod näher als dem Leben.

Er ist 33 Jahre alt, athletisch, trägt Jeans und T-Shirt. Er hat Betriebswirtschaft studiert, hat eine Frau und einen kleinen Sohn, geht joggen. Christoph Bauer hat sechshundert Fußballstadien in achtzig Ländern gesehen, dann hat er keine Kraft mehr. Als hätte man den Stecker gezogen.

Viren können die Krankheit auslösen - zum Beispiel Corona

Er lag den ganzen Tag. Wie ein sehr alter Mensch, der langsam verschwindet. Nun sieht alles danach aus, als habe er ME/CFS überwunden, eine Krankheit, die als unheilbar gilt, weil weder zuverlässige Therapien noch Medikamente existieren. Aber es gibt auch Geschichten wie die von Christoph Bauer.

Die fünf Buchstaben stehen für die schwerwiegende Autoimmunerkrankung namens Myalgische Enzephalomyelitis, auch Chronisches Fatigue-Syndrom genannt. Wer das hat, ist krankhaft erschöpft und häufig ein Pflegefall. Es ist eine Variante von Long Covid. Alle möglichen Viren können ME/CFS auslösen, nicht nur das Coronavirus. Epstein-Barr, Influenza.

Überall im Körper entstehen Entzündungsherde, die die Durchblutung stören und so wenig Sauerstoff ins Gewebe lassen, dass Zellen absterben. Die Weltgesundheitsorganisation stuft ME/CFS seit 1969 als neurologische Krankheit ein. In Deutschland geht man von 250.000 Betroffenen aus, darunter 40.000 Jugendliche. Viele Ärzte haben zum ersten Mal durch die Pandemie davon gehört, weil bisher kaum geforscht wurde. Ein großer Teil der Betroffenen vegetiert vor sich hin. Viele wurden falsch behandelt, weil man annahm, es läge an der Psyche. Inzwischen laufen Medikamentenstudien, auch placebokontrollierte Therapiestudien.

In seinem Wohnzimmer schenkt Christoph Bauer Tee aus, setzt sich aufs Sofa und ist sofort bei Gott. Ohne seinen Herrn, sagt er, säße er nicht hier in seiner Altbauwohnung am Stadtrand von Chemnitz und würde erzählen, wie er seinen Garten umgegraben hat. "Ich habe gewusst, dass Gott mir helfen wird", sagt er.

Er konnte noch drei Minuten stehen

Vor einem Jahr traf ich ihn zum ersten Mal. Damals hatte ich einen Text über eine junge Frau mit ME/CFS geschrieben, die an guten Tagen mit ihren Hunden spazieren gehen konnte und an schlechten kaum das Zähneputzen schaffte. Danach meldeten sie mehrere Menschen, die ihr Schicksal teilen. Christoph Bauers Mutter erzählte in einer E-Mail von ihrem Sohn. Er konnte kaum noch drei Minuten stehen und duschte im Sitzen. Die Eltern wollten ihn in einer Medikamentenstudie unterbringen. Beinahe gelingt es ihnen. Aber ihr Sohn, so schrieb die Mutter, sei nicht transportfähig. Sie müssten durch halb Deutschland fahren.

Als ich ihn im Mai 2022 besuche, reicht sein Haar bis zum Nacken. Es umrahmt sein schmales Gesicht, das wie Wachs aussieht. Er liegt auf dem Sofa. Die Gardinen sind zugezogen und seine Augen geschlossen. Das Licht, sagt er, hämmere ihm direkt in den Kopf. Das ertrage er nicht. Er lebt in der Einliegerwohnung seiner Eltern, irgendwo in Mittweida. Die Mutter stellt eine Teekanne ans Bett und Essen. Einen Teil seiner Geschichte erzählen seine Eltern, die sich freigenommen haben. Sie weinen viel, während er eine Etage tiefer auf dem alten Plüschsofa ruht und nichts davon mitbekommt. Seine Kraft reicht, um knapp dreißig Minuten zu erzählen.

Es ist warm draußen, beinahe heiß, und er zieht die Wolldecke bis zur Brust, als er von seinem ersten Crash berichtet. Fünfzehn Monate liegt er zurück. Februar 2021, mitten in der Pandemie. Damals weiß er noch nicht, dass man von Crashs spricht, wenn ME/CFS-Patienten zusammenbrechen. Er hat noch nie von dieser Krankheit gehört. Er fühlt sich plötzlich matt, als hätte er Grippe. Die Muskeln brennen, das Herz rast. Er hat keine Ahnung, was los ist. Als es nicht besser wird, lässt er sich krankschreiben. Zwei Wochen, dann wieder zwei, noch weitere zwei. Seitdem war er nie wieder arbeiten.

Den nächsten Crash spürt er intensiver. Ein Tag im Mai 2021, sein Sohn Silas ist gerade ein halbes Jahr alt. Mittags läuft er mit dem Kinderwagen durchs Wohnviertel, als ihm die Beine weich werden. Weil er glaubt, es ist der Kreislauf, kauft er sich Cola am Kiosk. Zu Hause legt er sich ins Bett. Erst viel später weiß er, es war alles zu viel gewesen. Am Tag zuvor das Joggen und danach Fotos machen an einem dieser Lost Places, wie die Ruinen heute heißen. ME/CFS-Patienten brechen zusammen, wenn sie zu viel machen.

Unerklärliche Schwäche

Er liegt viel, rappelt sich auf, liegt danach wieder. Die Ärzte finden anfangs nichts. Es könnte die Psyche sein, vermuten sie. Er kommt in die Klinik, macht Krafttraining, wird den ganzen Tag beschäftigt, crasht und fühlt sich immer schwächer. So beginnt es häufig: unerklärliche Schwäche, Einweisung in die Psychosomatische Klinik. Erst Wochen nach dem Klinikaufenthalt werden in seinem Blut die für ME/CFS typischen Autoantikörper nachgewiesen, fehlgeleitete Bestandteile des Immunsystems, die die körpereigenen Strukturen angreifen. Zweimal wird getestet, zweimal positiv. Welches Virus ME/CFS bei ihm ausgelöst hat, wissen die Ärzte nicht.

Im Oktober 2021, als er in der Klinik liegt, schneidet eine Patientin sein Haar. Danach geht er nicht mehr zum Friseur. Das Sitzen tut ihm weh, die Geräusche auch.

Als Bauarbeiter die Fassade verputzen, zieht er zu seinen Eltern in die Einliegerwohnung. Hier ist es ruhig. Kein Baulärm, kein Kleinkind. Silas ist ein Jahr alt. Er steckt sich Wachsstöpsel in die Ohren, damit es still ist um ihn herum. Kein Fernsehen, keine Musik. So erzählt er es. Selbst die Bewegung von Schneeflocken ist ihm zu viel. Wenn seine Frau ihn besucht, legt sie sich schweigend neben ihn. Morgens schickt sie ihm kurze Sprachnachrichten, bringt eine Locke von Silas mit, schreibt Briefe. Silas sieht er immer nur kurz. Im Februar 2022 schieben ihn seine Eltern im Rollstuhl durch den Park. Danach verlässt er das Haus nicht mehr.

"Chris steht wieder - Halleluja!"

Es ist ein kühler Tag im April 2023, als ich ihn wieder besuche. Sein Gesicht ist runder geworden. Unter dem T-Shirt spannen sich Muskeln, die vor einem Jahr nicht sichtbar waren. Er joggt wieder, fast acht Kilometer jedes Mal. Silas, der jetzt zweieinhalb ist, klettert auf seinen Schoß und blättert durch ein Buch mit Baggern und Müllautos. Als wäre der Vater nie weggewesen. Kann man seine Geschichte ernsthaft aufschreiben? Ich frage mich das, und er fragt sich das selbst. Hier steht sie nun. Vielleicht aus der menschlichen Hoffnung heraus, dass gute Dinge manchmal passieren, ohne bis ins Detail erklärbar zu sein.

In Christoph Bauers Whatsapp-Profil steht dieser Satz: "Chris steht wieder - Halleluja!" Er ist überzeugt, dass sein Glaube ihn gerettet habe.

Über dem Sofa hängt das Hochzeitsbild, das fast fünf Jahre alt ist. Er küsst Annette verträumt die Stirn. Christoph Bauer lächelt, während unter der Brille links und rechts Tränen laufen. "Ich bin ein emotionaler Mensch", sagt er. Je schlechter es ihm ging, desto stärker haben er und seine Familie ihre Hoffnung auf den Glauben gerichtet.

Der 25. August 2022 war ein warmer, sonniger Tag. Er möchte ihn so notiert haben: "Noch am Mittag ließen mich die Symptome kaum die Toilette erreichen, ich konnte schwer zwei Whatsapp am Stück tippen. Später kam meine Frau mit einem Seelsorger, um für mich zu beten. Direkt im Anschluss an das Gebet fing ich von einer Sekunde zur nächsten am ganzen Körper an zu vibrieren. Als die Vibration verschwand, spürte ich, wie etliche ME/CFS-Symptome schlagartig fehlten. Minuten darauf war ich erstmals wieder im Garten, zwei Stunden später daheim bei meiner Familie. Ich bin fest überzeugt: Gott hat mich geheilt. Ihm sei alle Ehre!"

Seine Geschichte klingt nach biblischer Wunderheilung. Kann das sein? Vielen Patienten kann niemand helfen. Sie liegen mit brennenden Muskelschmerzen im Bett. Wie passt seine Geschichte dazu?

Es gibt kaum Experten für ME/CFS

Bundesweit gibt es eine Handvoll Experten für ME/CFS. Carmen Scheibenbogen, Professorin an der Charité in Berlin, ist die bekannteste. Sie arbeitet am Institut für Medizinische Immunologie. Sie halte solche Geschichten für schwierig und wissenschaftlich nicht überprüfbar. Das Problem sei, dass die Patienten oft nicht erst genommen werden. Dass ihnen fatalerweise unterstellt werde, eine falsche Einstellung zu haben. Die Betroffenen seien schwerkranke Menschen.

Das Klinikum Chemnitz verweist bei der Suche nach einem Experten, der den Fall Bauer einordnen könnte, außerdem an den Hamburger Michael Stark. Er ist Professor für klinische Sozialpsychiatrie, war an der Universitätsklinik Eppendorf und später am Asklepios Westklinikum Hamburg. Stark hat ein Zentrum aufgebaut, in dem er Menschen mit ME/CFS behandelt und begutachtet, wenn sie Rente beantragen müssen. Sie reisen aus ganz Deutschland an. Er verkauft auch ein Online-Selbsthilfeprogramm für 90 Euro, das teils meditativ ist. In der Szene wird er mit Skepsis betrachtet. Er sagt, weil er Psychiater sei: "Viele Betroffene werden zu Unrecht als psychisch krank abgestempelt."

"Man muss ME/CFS ganzheitlich sehen, dann ist das mit dem Glauben kein Hokuspokus."

Stark erklärt, er kenne ähnliche Fälle: "Ich sage meinen Patienten, wenn sie gläubig sind, dann sollen sie auf ihre höhere Instanz vertrauen. Man muss ME/CFS ganzheitlich sehen, dann ist das mit dem Glauben kein Hokuspokus."

Vor fast vierzig Jahren, als er Psychiater an der Uniklinik war, habe er das erste Mal mit ME/CF-Betroffenen zu tun gehabt: "Die waren nicht depressiv. Die wollten, aber die konnten nicht."

Vieles von dem, was er erzählt, passt auf Christoph Bauer. Zum Beispiel, dass seine Patienten vorher besonders aktive Menschen waren. Er vergleicht sie mit übertrainierten Hochleistungssportlern. Mit Christof Ziaja, promovierter Sportwissenschaftler und Gastwissenschaftler in Eppendorf, entwickelte er vor 15 Jahren eine Therapie. Sie schnallen den Menschen Bauchgurte mit EKG-Dioden um und messen den Herzschlag. Sie kontrollieren die Aktivität des Nervensystems, das aus zwei Strängen besteht: Sympathikus und Parasympathikus. Der erste Strang erzeugt den Fluchtreflex, den Verstand, die Sinne, die Konzentration. Er steuert die Muskeln, beschleunigt den Puls und die Atmung und setzt Insulin frei. Der zweite Strang macht den Rest: Tiefschlaf, Immunsystem, Ausscheidungen, Entspannung, Regeneration.

Bei allen seinen Patienten sei der Sympathikus dauerhaft hochgefahren. Er beschreibt eine Kettenreaktion, die zum Beispiel die Blutplättchen verkleben lasse und Autoantikörper produziere. Weil der Sympathikus ständig Muskelkraft bereitstelle, bekämen die Menschen brennende Dauerschmerzen, Krämpfe, Schweißanfälle, Verdauungsstörungen. Auch deshalb würden sie kein Licht ertragen. "Ich sage zu meinen Patienten: In eurem Körper läuft ein Drama ab", sagt Stark.

In seiner Theorie müsse das autonome Nervensystem beruhigt und der Vagus gestärkt werden. Der Glaube könne beim Runterfahren helfen, die Angst beruhigen, Geborgenheit vermitteln. Er beobachte Patienten, wie sie sich langsam regenerieren und habe schon bettlägerige Menschen wieder in Gang bekommen. Längst nicht alle. Wenn die Krankheit mehr als fünf Jahre da sei, würden wegen irreparabler Schäden die Heilungschancen sinken, sagt Stark. Und wie weit steigt der Mensch wieder in sein Leben ein? Das brauche Anleitung.

Christoph Bauer ist noch krankgeschrieben. Wenn viele am Tisch sitzen und reden, strenge ihn das an. Er brauche Pausen. Wenn er joggen geht, laufe er langsamer als früher. Wenn er Stress hat, spüre er immer noch, wie die Nervenbahnen in den Schenkeln brennen. Er nimmt das Handy nicht mehr mit ins Badezimmer.

Wieder im Spiel

Ende Februar war er zum ersten Mal wieder im Stadion. Er nahm Silas mit, schnallte ihn auf den Rücksitz und fuhr in den Osten nach Freital. Der SC Freital spielte gegen VFC Plauen, fünfte Liga. Er hat die Tage gezählt, seit er das letzte Mal im Stadion war. 523.

Silas nimmt ein neues Bilderbuch vom Stapel. Es heißt "Einsteigen und losfahren."

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